Doch die Geschichte verlief ganz anders.
Der größte Logiker des Jahrhunderts
Nach Göttingen, Paris, Amsterdam und Zürich wenden wir uns dem nächsten Schauplatz zu: der nach dem Ersten Weltkrieg noch mühsam von ihrem ehemaligen Glanz als Reichs-, Haupt- und Residenzstadt einer einstigen Großmacht zehrenden Donaumetropole Wien. An ihrer Universität, in der sich die brillantesten von der Mathematik und dem „Tractatus logico-philosophicus“ des Ludwig Wittgenstein inspirierten Denker zum „Wiener Kreis“ zusammenschlossen, studierte in den späten Zwanzigerjahren der aus einem reichen Brünner Haus stammende Kurt Gödel.
Ursprünglich wollte sich Gödel der Physik widmen. Als er, der einst als Kind an einem rheumatischen Fieber erkrankt war und seither in panischer Furcht vor Krankheit und drohendem Sterben lebte, den im Rollstuhl dozierenden Mathematiker Philipp Furtwängler sah, entschloss er sich zum Studium der Mathematik. Womöglich mit dem Hintergedanken, dass die Mathematik ein Fach sei, bei dem Kranken – und im Unterschied zum Hypochonder Gödel war Furtwängler offensichtlich nicht gesund – ein langes Leben gegönnt ist. Für alles, was Gödel tat, gab es eine logische Begründung, mag sie auch skurril anmuten.
Höhepunkt jeder Woche an der Universität war für Gödel das Treffen des Wiener Kreises Donnerstags in einem kleinen Hörsaal im Parterre des großen Institutsgebäudes an der Strudlhofgasse. Der Mathematiker Hans Hahn lud den begabten Studenten in die Runde der Dozenten und Professoren, die vom inspirierenden Philosophen Moritz Schlick geleitet wurde. Obwohl Ludwig Wittgenstein dem Wiener Kreis nie angehörte, ihm sogar reserviert gegenüberstand, waren anfangs seine Thesen zentraler Gegenstand der Diskussionen. Danach verlagerte man die Gespräche auf die logischen Grundlegungen der exakten Wissenschaften. Das von Hilbert vorgeschlagene Programm war in den Augen der Diskutanten für alle anderen Disziplinen richtungweisend. Und sie alle waren davon überzeugt, dass dieses Programm in Kürze für die Mathematik vollzogen sein würde und sie in den nächsten Jahrzehnten Varianten des Programms auf die Physik, die Biologie, aber auch auf die Psychologie, die Soziologie, ja die gesamte Erkenntnistheorie erfolgreich übertragen würden.
Gödel nahm an vielen Sitzungen teil, äußerte sich jedoch nie. Keine einzige Wortmeldung kam von seiner Seite. Denn trotz seiner stupenden Fähigkeit, alles logisch analysieren zu können, glaubte er nicht an die „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, wie es Rudolf Carnap, einer der prononciertesten Vertreter des Wiener Kreises, formulierte. In seine Habilitationsschrift jedoch floss eine Erkenntnis Gödels ein, die zerstörte, was Hilbert mit seinem Programm errichten wollte:
Gödel bewies mit einer von ihm erfundenen genialen Methode,35 die allein auf der Arithmetik der Zahlen fußt und so sicher wie die Tatsache ist, dass sechs mal sieben zweiundvierzig ergibt, die folgende Aussage: In jedem logisch widerspruchsfreien System, das die Arithmetik der Zahlen in sich trägt, gibt es Sätze, von denen prinzipiell nicht entschieden werden kann, ob sie wahr sind oder nicht. Dabei ist wichtig, dass man den Beweis oder die Widerlegung aller Sätze des Systems nur mit den innerhalb des Systems zur Verfügung stehenden Mitteln durchführen darf.
Kurz gesagt: Gödel zeigte, dass in der formalen Mathematik Hilberts immer ein „Ignoramus et Ignorabimus“ lauert.
Ja, es kommt für Hilberts Programm noch schlimmer. Gödel zeigte sogar Folgendes: Nur „von außen“, das heißt von einem außerhalb des formalen Systems befindlichen Standpunkt aus, kann man feststellen, dass das System logisch widerspruchsfrei ist. Denn der Satz „Das formale System ist logisch widerspruchsfrei“ ist einer der Sätze, von denen – innerhalb des Systems – prinzipiell nicht entschieden werden kann, ob sie wahr sind oder nicht.
Metaphorisch brachte der auch bei Hilbert studierende französische Mathematiker André Weil, Bruder der Philosophin und Mystikerin Simone Weil, diese Erkenntnis Gödels so auf den Punkt: „Gott existiert, weil die Mathematik widerspruchsfrei ist. Und der Teufel existiert, weil wir es nicht beweisen können.“
Spektakulär war zudem, wie diese Erkenntnis Gödels ins Licht der Öffentlichkeit trat: Vom 5. bis zum 7. September 1930 fand in Königsberg, der Stadt Kants und dem Geburtsort Hilberts, die sechste „Deutsche Physiker- und Mathematikertagung“ statt, an der Rudolf Carnap als Vertreter des Wiener Kreises, Arend Heyting, ein Schüler Brouwers, und John von Neumann als Vertreter des Programms von David Hilbert Vorträge hielten. Man war bemüht, die jüngere Generation von Mathematikern zu Wort kommen zu lassen. Dies auch deshalb, weil man einen erwartbaren Streit zwischen den Anhängern Brouwers und dem bei der Tagung anwesenden Hilbert vor aller Öffentlichkeit vermeiden wollte. Die jungen Vertreter ihrer Schulen sprachen im gemäßigten und umgänglichen Ton. Auch Gödel nahm an der Tagung teil, trug über seine Dissertation36 vor und erntete dafür Anerkennung. Am Ende der Tagung meldete sich bei der Abschlussdiskussion Gödel zu Wort und tat seine neuste Erkenntnis kund, die er in der Habilitationsschrift veröffentlichen werde: dass formale Systeme, welche die Arithmetik der Zahlen beinhalten, notwendig unvollständig sind.
Diese Wortmeldung schlug bei denen, die ihren Inhalt verstanden, wie eine Bombe ein. Hilbert selbst nahm an dieser Diskussion nicht teil, weil er gerade auf dem Weg zu seiner Radioansprache war, bei der er sein „Wir können wissen, wir werden wissen!“ verkündete. Aber Bernays und von Neumann waren sich des Stellenwerts der Aussage Gödels bewusst: Hilberts Programm, so wie sich sein Erfinder dies vorstellte, war hoffnungslos zum Scheitern verurteilt. Das „Wir können wissen, wir werden wissen!“ stimmte schlichtweg nicht. Erst Monate später wagten sie es, Hilbert darüber zu informieren, so sehr fürchteten sie den Ärger ihres Lehrers und Meisters.
Bis zum Ende seines Lebens weigerte sich Hilbert, den Unvollständigkeitssatz Gödels in seiner Tragweite anzuerkennen.
Gespenster in Princeton
Gödel selbst fand seine Erkenntnis außerordentlich ermutigend. Er war felsenfest überzeugt, dass die Mathematik, auch jene, die das Rechnen mit unendlichen Dezimalzahlen erlaubt, widerspruchsfrei ist. Nimmt man diesen Standpunkt ein, ist Hilberts Programm eine unnötige Fleißaufgabe. Und es ist wenig verloren, wenn man erkennt, dass diese Fleißaufgabe undurchführbar ist.
Dafür aber viel gewonnen. Denn wenn es eine Aussage gibt, von der man feststellt, dass sie innerhalb des logischen Systems, in dem sie formuliert wurde, weder beweisbar noch widerlegbar ist, dann steht diese Aussage als mögliches neues Axiom zur Verfügung. Das bedeutet, man könnte gleichsam per Dekret erklären, dass die Aussage Gültigkeit besitzt, und hat damit das bisherige System um diese Aussage bereichert. Und auch das um diese Aussage erweiterte System bleibt widerspruchsfrei. Man könnte aber genauso verfügen, dass die Negation dieser Aussage zutrifft. Dann erhält man aus dem bisherigen System ebenfalls ein erweitertes, aber anderes System, das genauso widerspruchsfrei ist.37
Und man wird nie um Aussagen verlegen sein, von denen feststeht, dass sie innerhalb des logischen Systems, in dem sie formuliert wurden, weder beweisbar noch widerlegbar sind. Es gibt sie zuhauf – und in den jeweils bereicherten Systemen mindestens so viele wie zuvor: unendlich viele.