Die Allmacht der formalen und durch willkürliche Axiome abgesicherten Mathematik ist bloß eine Allmacht über Phantasmagorien.
Vor die Alternative gestellt, Mathematik entweder im Sinne Poincarés zu betreiben und mit einer Wirklichkeit leben zu müssen, in der viele Fragen, seien sie unerheblich oder auch nicht, für immer offen bleiben, oder aber im Sinne eines auf leeren Axiomen fußenden Spiels, das die Illusion von Allmacht verleiht, hat sich die überwältigende Mehrheit in der mathematischen Gilde für den zweiten Weg entschieden. Gegen die Wirklichkeit. Denn, so formulierte es Hilbert, „aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben können“. Selbst dann nicht, wenn dieses Paradies ein Spukschloss voll Gespenstern ist.
Eine im folgenden Sinn höchst eigen- und auch einzigartige Wahclass="underline" Stellen wir uns vor, es gelänge, zu außerirdischen Intelligenzen, die möglicherweise in den Tiefen des Universums auf fernen Planetensystemen leben, einen Funkkontakt herzustellen. Offenkundig kann die Kommunikation zwischen „uns“ und „ihnen“ nur über die Mathematik erfolgen. Denn diese und nur diese wird überall im Kosmos die gleiche sein. Unter dieser Annahme gilt die Wette.38 Wenn die Außerirdischen eine mindestens so hohe Mathematik wie wir entwickelt haben, dann haben diese Außerirdischen einen Blick auf das Unendliche gewonnen, der den intuitiven Vorstellungen Poincarés und nicht den logischen Abstraktionen Hilberts entspricht.
Auf den rechten Blick auf das Unendliche kommt es an: Wer Mathematik im Sinne Poincarés betreibt, wer im mathematischen Denken der Intuition, der Einsicht, dem ungetrübten Blick in das Wesen der Dinge Vorrang gegenüber der Logik gibt, muss davon ausgehen, dass es einfach nirgends in der Welt Unendliches gibt. Nicht in Hotels und nicht in Bussen. Nicht an Haltestellen und nicht an Garderoben.
Auch nicht im gigantischen Weltall. Denn dieses hat einen endlich großen Ereignishorizont, hinter den kein Signal zu schauen vermag und dessen Jenseits uns für alle Zeiten verborgen bleiben wird. Es ist schlicht sinnlos, von der Existenz einer Welt hinter diesem Horizont zu räsonieren. Auch nicht im winzig Kleinen. Denn die Gesetze der Quantenphysik stehen der Idee der Zergliederung einer Linie in unendlich viele Punkte entgegen. Selbst der Computer kennt nichts Unendliches, nicht einmal das Internet. Jede Computerprozedur bricht einmal nach endlich vielen Schritten ab. Selbst wenn sie in eine Schleife gerät: Irgendwann wird der Strom abgeschaltet. Das Gerät besitzt nur endlich viele Felder von Zahlen, der Bildschirm nur endlich viele Pixel, eine endliche Auflösung. Allein in unserem Denken, in unserer Imagination gibt es das Unendliche. Allerdings nicht als etwas Vorgegebenes, sondern bloß als Idee des Nicht-zu-Ende-kommen-Könnens.
In Träumen, in denen man nach etwas greifen möchte, aber der Arm um ein ganz klein wenig zu kurz ist: Die Anstrengung wird erhöht, man beugt sich noch weiter vor, und noch immer gelingt es nicht, das Begehrte zu fassen; immer tiefer wird das Verlangen, immer verzweifelter das Bemühen, immer knapper zieht sich das zu Erreichende vor den gierenden Fingern zurück. Bis man erwacht. Und obwohl Träume, so berichten Schlafforscher, nur ein paar Sekunden dauern, scheinen sie für die schlafende Person endlos zu sein.
In Michelangelos Fresko von der Erschaffung der Welt in der Sixtinischen Kapelle findet man dieses unstillbare Verlangen, diesen ewigen Wunsch, einander zu erreichen, dieses unendliche Sehnen in der eigenartig dramatischen Distanz vermittelt, welche den Zeigefinger der rechten Hand des allmächtigen Schöpfers vom Zeigefinger der linken Hand Adams trennt. Nur ein leises Strecken von Adams Finger wäre für die Vollendung des Menschen vonnöten. Doch, und dies ist Michelangelos Botschaft, wir werden im Diesseits wohl unendlich lang auf des Menschen erlösende Bewegung warten müssen.
In Momenten des Glücks, in denen man wünscht, sie mögen nie, nie zu Ende gehen. Wenn die Hoffnung erwacht, die Liebe, die einem geschenkt wurde, werde auf ewig bestehen. Und obwohl Ernüchterung droht, ja so sicher ist wie das Amen im Gebet, ist dieses kindliche Verlangen nach dem unaufhörlichen Glück vorhanden. „Weh spricht: Vergeh!“, dichtete Nietzsche ein wenig weinerlich, „Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.“
In einigen der Erzählungen Kafkas, am ergreifendsten wohl in der „Kaiserlichen Botschaft“, die berichtet, wie der Bote des auf dem Totenbette hingestreckten Kaisers mit einer Nachricht, einer Botschaft des Sterbenden zu „dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste Ferne geflüchteten Schatten“ eilt. Zuerst muss der Bote Paläste und Treppen und Höfe durchmessen, eine schiere Unzahl von aufeinanderfolgenden Palästen, Treppen, Höfen innerhalb des kaiserlichen Gefildes. Sie sind gleichsam ein Abbild des abzählbar Unendlichen, denn Kafka macht uns eindringlich klar, dass der Bote sie der Reihe nach zu durchlaufen sucht, aber niemals, niemals alle überwinden wird. Doch selbst wenn ihm dies gelänge, und er stürzte „endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen –, liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten“, hören wir Kafka berichten und haben das Bild dieser riesig chaotischen Stadt, das überabzählbar Unendliche, vor Augen.
„Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt“, beendet Kafka die Erzählung von der kaiserlichen Botschaft. Deutet er damit an, dass wir dem Unendlichen wenigstens in Träumen, Gefühlen, Ahnungen begegnen können?
Und was ist mit unserer Reflexion, unserem rationalen Vermögen? Hier ist die Mathematik gefordert. Die Zahlen 1, 2, 3, … sind die Sprossen auf der Leiter ins Unendliche und zugleich die Bausteine aller Gedanken. Mit unserem Denken klimmen wir uns an dieser Leiter empor. Aber das Unendliche selbst ist keine Zahl. Es ist deren Hintergrund, ohne den das Zählen selbst undenkbar wäre. Darum gibt auf die Frage, was die Mathematik sei, Hermann Weyl die beste aller Antworten:
Mathematik ist die Wissenschaft vom Unendlichen.
Anmerkungen
1 Die gleiche Einteilung des Jahres schlugen in der Moderne die Vertreter des Nationalkonvents Frankreichs nach der Revolution des Jahres 1789 vor: Ab dem 22. November 1792, so entschied man, habe ein neuer Kalender zu gelten: Jedes Jahr besteht aus 12 Monaten, die ihrerseits je drei Dekaden zu je zehn Tagen haben. Am Ende des Jahres, das im Revolutionskalender nach der Ernte zu Herbstbeginn festgelegt wurde, folgen fünf und in jedem vierten Jahr sechs Feiertage, die schöne Namen trugen: Jour de la Vertu, Tag der Tugend, Jour du Génie, Tag des Geistes, Jour du Travail, Tag der Arbeit, Jour de l’Opinion, Tag der Meinung, Jour des Récompenses, Tag der Belohnung, und an Schaltjahren Jour de la Révolution, Tag der Revolution. Auch die Monatsnamen klangen poetisch und wurden den Jahreszeiten entsprechend geformt: im Herbst Vendémiaire, an die Weinlese erinnernd, Brumaire, denn das französische brume ist der Nebel, Frimaire, denn das französische frimas ist der Raureif; im Winter Nivôse, auf den Schnee verweisend, Pluviôse, auf den Regen verweisend, Ventôse, auf den Wind verweisend; im Frühling Germinal, das lateinische germen ist die Knospe, Floréal, das lateinische flos ist die Blume, Prairial, das lateinische pratrum ist die Wiese; im Sommer Messidor, denn das lateinische messis bedeutet Ernte, Thermidor, denn das griechische thérmis bedeutet warm, und Fructidor, denn das lateinische fructus bedeutet Frucht. Allen schönen Namen zum Trotz war der Kalender im Volk nicht beliebt. Denn nur jeder zehnte, und nicht wie im jüdischen und später im christlichen Kalender üblich jeder siebente Tag galt als arbeitsfreier Tag. 1806 kehrte Frankreich durch ein Dekret Napoleons wieder zum christlichen Kalender zurück.