2 Bis heute wissen wir nicht genau, wie die römischen Rechenmeister bei solchen Rechnungen vorgegangen sind. Allgemein nimmt man an, sie haben ein Verfahren verwendet, das schon ägyptischen Gelehrten bekannt war. Wir wollen es am Beispiel der beiden Zahlen LVII und LXXV vorführen: Zuerst schreibt man die beiden Zahlen nebeneinander:
LVII LXXV
Danach notiert man unter der ersten Zahl deren Hälfte, dann von dieser Hälfte wieder die Hälfte, danach wieder die Hälfte, und so fort, bis man zur Zahl I gelangt. Und wenn eine ungerade Zahl halbiert werden soll, dann halbiert man statt ihrer die um eins kleinere gerade Zahl.
Wir zeigen dies ausführlich am Beispiel LVII: Zunächst schreiben wir sie als XXXXX V II, dann noch detaillierter als XXXX VVV II, schließlich als XXXX VV IIIIIII, denn jetzt können wir sie halbieren: XX V III. Eigentlich wären am Zahlenende sieben Einer zu halbieren, aber wir halbieren nur sechs von ihnen, das siebente I beachten wir einfach nicht. Darum sieht die Liste nun folgendermaßen aus:
LVII LXXV
XXVIII
Um die Hälfte von XXVIII berechnen zu können, schreiben wir diese Zahl als XX IIIIIIII und bekommen als deren Hälfte X IIII. Damit lautet die Liste:
LVII LXXV
XXVIII
XIIII
Weil sich XIIII als VV IIII schreiben lässt, lautet deren Hälfte V II. Die weiteren Hälften findet man sehr schnelclass="underline" Statt VII, also IIIIIII, wird die um eins kleinere gerade Zahl IIIIII zu III halbiert; und statt III wird die um eins kleinere gerade Zahl II zu I halbiert. Also lautet die Liste aller Hälften so:
LVII LXXV
XXVIII
XIIII
VII
III
I
Nun werden unter der rechten Zahl LXXV die Doppelten der jeweils darüber stehenden Zahlen notiert. Also wird als erstes LXXV verdoppelt. Dies ist zunächst LL XXXX VV, folglich C XXXX X, was sich zu CL vereinfacht. Dann wird CL verdoppelt, man erhält zunächst CC LL, was sich zu CCC vereinfacht. Darum ergänzt man in der Liste nach den beiden ersten Verdopplungen um die folgenden Einträge:
LVII LXXV
XXVIII CL
XIIII CCC
VII
III
I
Nun müssen, damit gleich viele Verdopplungen wie Halbierungen erfolgen, noch drei weitere Verdopplungen durchgeführt werden: Aus CCC entsteht durch Verdopplung CCCCCC, was sich zu DC vereinfacht. Aus DC entsteht durch Verdopplung DD CC, was sich zu MCC vereinfacht. Und aus MCC entsteht durch Verdopplung MMCCCC:
LVII LXXV
XXVIII CL
XIIII CCC
VII DC
III MCC
I MMCCCC
Damit hat man die Hauptarbeit des Multiplizierens erledigt. Jetzt muss man nur noch zwei Schritte durchführen: Nach einer bizarren Geheimregel der alten ägyptischen Gelehrten sind die ungeraden Zahlen die „guten“ Zahlen und die geraden Zahlen die „bösen“ Zahlen. Immer wenn auf der linken Spalte eine gerade, also eine „böse“ Zahl auftaucht, ist diese Zeile zu streichen, damit nur die Zeilen mit den „guten“ Zahlen auf der linken Seite übrig bleiben:
LVII LXXV
VII DC
III MCC
I MMCCCC
Denn XXVIII (also 28) und XIIII (also 14) sind „böse“ Zahlen, alle übrigen Zahlen in der linken Spalte sind ungerade, also „gut“. Im letzten Schritt addiert man alle Zahlen der rechten Spalte, die nicht durchgestrichen sind, sich also auf „guten“ Zeilen befinden. Dies ergibt, nach Symbolen geordnet, zunächst
MM M D CCCC CC C L XX V.
Das Ergebnis vereinfacht sich zu MMM DD CC L XX V, in einer letzten Vereinfachung zu MMMMCCLXXV. Wir schreiben heute dafür 4275, und dies ist auch wirklich das Produkt von 57 mit 75.
3 Zuweilen glaubt man, Mathematik zeichne sich dadurch aus, dass in ihr alle Ergebnisse ganz exakt berechnet werden. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Oft genügt es, wenn man nur den ungefähren Wert eines Resultates kennt, man also gut schätzen kann. Ist es doch beeindruckend, dass die oben durchgeführte einfache Überlegung wenigstens die Größenordnung des auf dem Schachbrett liegenden Reises mitteilt, ohne dass man dafür irgendein Rechengerät oder stundenlange Zwischenrechnungen benötigt.
Wer es aber genauer wissen will, kann zusätzlich den folgenden Gedanken ins Spiel bringen: Immer wenn wir 1024, die exakte Zahl, durch 1000 = 103, die für das Rechnen bequeme Näherung, ersetzten, leisteten wir uns einen Fehler von 2,4 %. Diesen Fehler zuungunsten der Reismenge haben wir beim 11., beim 21., beim 31., beim 41., beim 51. und beim 61. Feld, also sechsmal begangen. Daher haben wir insgesamt mit einem Unterschied von 6 × 2,4 % = 14,4 %, also von rund 15 % zwischen den grob geschätzten 16 Trillionen Körnern und den tatsächlich auf dem Schachbrett aufzustapelnden Reiskörnern zu rechnen. Weil 15 % von 16 den Wert 2,4 ergeben, sind rund 2,4 Trillionen zu den 16 Trillionen Körnern zu addieren. Darum beträgt die Summe der Reiskörner auf dem Schachbrett ziemlich genau 18,4 Trillionen Körner.
Mit einer guten Rechenmaschine ausgerüstet, kann man die genaue Zahl mühsam ermitteln, indem man die 64 Zahlen, mit 1 beginnend und die nächste immer doppelt so groß wie die vorherige, addiert: Es sind genau
18 446 744 073 709 551 615 ,
also 18 Trillionen 446 Billiarden 744 Billionen 73 Milliarden 709 Millionen 551 Tausend und 615 Körner Reis. Es gibt, nebenbei bemerkt, eine einfachere Methode, wie man zu dieser exakten Summe gelangt: Die Summe aller vorherigen Zahlen ist nämlich immer das Doppelte der letzten Zahl minus eins. Zum Beispiel ist die Summe der Körner der ersten Reihe
1 + 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + 128 = 2 × 128 − 1 = 256 − 1 = 255 .
Daher kann man, um die Summe aller Körner auf dem Schachfeld zu ermitteln, die Zahl zwei 64-mal mit sich selbst multiplizieren und vom Ergebnis
18 446 744 073 709 551 616
eins abziehen.
4 Wie leicht man in die Irre geführt werden kann, belegt das folgende Beispieclass="underline" Angenommen, die Erde sei eine exakte Kugel mit 40 000 km Umfang am Äquator. Um diesen werde eine 40 000 km lange Schnur straff gespannt. Dann löst man die Spannung ein wenig, indem man die Schnur um 10 Zentimeter verlängert. Wie weit ist, wenn diese Verlängerung gleichmäßig entlang des ganzen Äquators verteilt wird, die Schnur dann von der Erdoberfläche entfernt? Kann ein Sandkorn, das einen Durchmesser von einem Hundertstel Millimeter besitzt, unter der Schnur hindurchschlüpfen? Die erstaunliche Antwort lautet: Sogar ein mehr als ein Zentimeter dicker Finger passt noch locker unter die Schnur – gleichzeitig und überall an allen Stellen der Erde.
5 Hipparch berücksichtigte, dass der Schatten der Erde nicht zylindrisch ist, sondern die Form eines Kegels hat. Den Öffnungswinkel dieses Kegels, der zugleich für die Verkürzung des Schattendurchmessers mit der Entfernung steht, konnte Hipparch aus der Größe der Sonnenscheibe ableiten. Die geschickte Verwendung von trigonometrischen Sätzen, die damals den griechischen Mathematikern gut bekannt waren, erlaubte Hipparch die Messung und Berechnung der Mondentfernung, wobei der Fehler seines Ergebnisses nur ein Prozent betrug.
6 Das Argument, das die Erfinder des „Kalküls“ präsentieren, könnte man folgendermaßen zu verteidigen versuchen: Auch „unendlich“ besitzt die Eigenschaft, dass einerseits „unendlich“ um 1 vermindert „unendlich“ bleibt und dass andererseits das Doppelte von „unendlich“ wieder „unendlich“ ist. Daher könnte die Summe