Die nächsten Kapitel, mit „Addiren“, also Addition, „Subtrahirn“, also Subtraktion, „Multiplicirn“, also Multiplikation, und „Dividirn“, also Division, übertitelt, erklären, wie man mit diesen, in arabischen Zahlzeichen geschriebenen Zahlen die Grundrechnungen durchführt. Die Methode des Adam Ries entspricht genau jener, die noch heute unsere Kinder in den Grundschulen lernen. Vor allem kommt es ihm darauf an, dass man die Methode nicht bloß ungefähr begreift, sondern dass man sie an einer Unzahl von Beispielen übt, um sie sicher beherrschen zu können.
Den Abschluss des Buches bildet ein Kapitel, das mit „Regula Detri“ überschrieben ist. Hier erklärt Ries den sogenannten „Dreisatz“, oder, wie man in Österreich und im süddeutschen Raum sagt, die „Schlussrechnung“, das Herzstück aller in der Wirtschaft wichtigen Rechnungen.
Die Aufgabe besteht immer aus drei Sätzen, zwei Aussagen und einer Frage: „Fünf Maurer errichten in fünf Tagen eine fünf Meter lange Mauer. Jetzt arbeiten zehn Maurer zehn Tage lang. Wie lang ist die Mauer, die sie errichten?“ „6 Ellen Stoff kosten 42 Kreuzer. 91 Kreuzer werden bezahlt. Wie viel Stoff wurde gekauft?“ Fragen dieser Art werden zuhauf gestellt, und Adam Ries zeigt geduldig und ausführlich, wie man ihnen beikommt.
Das Buch des Adam Ries verkaufte sich prächtig. Noch zu seinen Lebzeiten wurde es in mehr als hundert Auflagen gedruckt. Nach dem Werk des Adam Ries hatten die Cossisten ausgedient. Niemand brauchte sie mehr, denn nahezu jede und jeder konnten von da an selber rechnen.
Geistesgeschichtlich kann man die Leistung des Adam Ries nicht hoch genug einschätzen. Zum ersten Mal erlebten die Menschen, dass sie nicht mehr von geldgierigen Gelehrten abhängig waren, die geheimnisvoll Berechnungen durchführten, welche wichtig waren, jedoch dem gemeinen Volk verborgen blieben. Nun gab es diese Geheimnisse nicht mehr. Niemand brauchte mehr Rechenmeister zu bezahlen. Alle konnten das Rechnen genauso leicht lernen wie das Schreiben und das Lesen. Adam Ries befreite die Bürgerinnen und Bürger aus ihrer Unmündigkeit, sie erlebten nach dem Mittelalter zum ersten Mal Aufklärung.
Wenn zuweilen provokant gefragt wird, warum Mathematik in der Schule unterrichtet wird, so lautet die Antwort in Hinblick auf diese Geschichte: Weil Mathematik das erste und das erfolgreichste Projekt der Aufklärung ist.
Doch Adam Ries war nicht der Erste, der arabische Zahlzeichen in Europa einzuführen versuchte. Lange vor ihm, zu Beginn des 13. Jahrhunderts, hatte der italienische Mathematiker Fibonacci ein Buch mit dem Titel „Liber Abaci“ veröffentlicht, worin erstmals außerhalb des arabischen Raumes die Ziffern und das Stellenwertsystem erklärt wurden. Doch was den Verkaufserfolg betraf, war Fibonaccis Buch ein glatter Reinfalclass="underline" Es wurde kaum gelesen. Womöglich lag es einerseits an der damals viel schwierigeren Verbreitung, der Buchdruck war noch nicht erfunden, andererseits an der lateinischen Sprache, in der es geschrieben war und die nicht mehr die Sprache des Volkes war.
Viele Jahrzehnte vor Fibonacci war der französische Geistliche Gerbert d’Aurillac im Zuge seiner Studien an den Universitäten von Cordoba und Sevilla mit den arabischen Zahlzeichen in Berührung gekommen. Im Jahre 999 wurde Gerbert zum Papst gewählt und nahm den Namen Sylvester II. an. Doch das Wesentliche bei seinem Studium der Zahlen hatte seine Heiligkeit damals nicht verstanden: was es nämlich mit der eigenartigen Ziffer 0 auf sich hat.
Tatsächlich ist Null eine Zahl voller Rätsel. Aber für das Darstellen der Zahlen ist an ihr allein wichtig, dass man mit der Null mühelos riesige Zahlen erschaffen kann: 1 000 000 ist eine Million, 1 000 000 000 eine Milliarde, 1 000 000 000 000 eine Billion und so weiter. Da es bei noch größeren Zahlen umständlich ist, alle Nullen anzuschreiben, kürzt man ihre Anzahl einfach durch eine hochgestellte Zahl ab: 106 steht für eine Million, 109 für eine Milliarde und so weiter.
Wobei nicht außer Acht gelassen werden darf, dass man im englischsprachigen Raum die großen Einheiten ganz anders nennt: Zwar bleibt 106 ähnlich wie im Deutschen „one million“, aber 109 ist bereits „one billion“ und 1012 heißt „one trillion“. Dass man „billion“ mit „Milliarde“ und „trillion“ mit „Billion“ zu übersetzen hat, kann auch bei sonst hochgebildeten Menschen zuweilen zu heillosen Verwirrungen Anlass geben. Bei Fachleuten, die alltäglich mit astronomisch großen Zahlen zu tun haben, spielen allerdings die Namen, seien es Million, Milliarde, Billion, Billiarde, Trillion im Deutschen, seien es million, billion, trillion, quadrillion, quintillion im Englischen, praktisch keine Rolle. Sie sprechen einfach nur von „zehn hoch elf“, wenn sie 1011, also hundert Milliarden, eine 1 mit elf Nullen, meinen. So kommt es nie zu Irrtümern beim Übersetzen.
Allerdings: Sich zum Beispiel hundert Milliarden Euro so vorstellen zu können wie zehn oder hundert Euro, bleibt ein Ding der Unmöglichkeit. Man darf mit Recht jemanden, der einige Millionen Euro sein Eigen nennt, wohlhabend nennen. Auch der Milliardär ist wohlhabend, sogar immens reich, aber Geld hat für ihn eine völlig andere Bedeutung als für einen Millionär. Geld wird in zunehmender Menge abstrakter. Niemand, der Milliarden Euro besitzt, errichtet wie Dagobert Duck dafür einen Geldspeicher, worin die Münzen gehortet werden. Anscheinend bilden gigantische Summen Geldes eine gänzlich andere Währung als überschaubare. Dies war schon vor mehr als 500 Jahren, zur Zeit der Fugger so, die dem Kaiser für seine Unternehmungen riesiges Kapital zur Verfügung stellten und sich dabei ihrer Verantwortung als Bankiers eines ganzen Staatswesens bewusst waren. Ganz anders als die Prasser und Spieler, die es damals schon gab, mit ihrem vergleichsweise mickrigen und ohnehin ständig schrumpfenden Besitz.
Der Maharadscha und die große Zahl
Es ist bezeichnend, dass die berühmteste Geschichte, in der eine riesige Zahl die Hauptrolle spielt, aus Indien stammt, dem Land, in dem die Null und das Stellenwertsystem erfunden wurden. Es ist die Geschichte von den Reiskörnern und dem Schachbrett, die in verschiedenen Varianten erzählt wird. Wenn man sie wie eine Art Märchen fasst, lautet diese Geschichte so:
In ferner Vergangenheit regierte ein junger Maharadscha sein riesiges und fruchtbares Land. Er verliebte sich in eine wunderschöne Prinzessin. Die beiden heirateten, und dem glücklichen Paar stand eine wunderbare Zukunft bevor. Das Land wurde vom Maharadscha weise regiert, die Bauern ernteten gewaltige Mengen Reis, und alle Untertanen des Maharadschas lebten in Wohlstand und Zufriedenheit. Doch das Schicksal schlug böse zu: Die Prinzessin erkrankte schwer, kein Arzt konnte helfen, und innerhalb von wenigen Tagen starb sie. Die Trauer im Land war groß, aber die Trauer des verwitweten Maharadschas war unermesslich. Nichts schien ihn trösten zu können. Er vergaß unter seinen Tränen seine ganze Umgebung, sein ganzes Land, seine Aufgabe, für das Wohl seines Volkes zu sorgen. Und so kam es, dass immer weniger Ernten eingefahren wurden, immer weniger Geld verdient wurde, immer weniger Wohlstand herrschte. Die Verarmung der Bevölkerung nahm ungeahnte Ausmaße an. Die Höflinge des Maharadschas waren ratlos, wussten nicht, wie man den Verfall verhindern könne. Bis einer unter ihnen sich erinnerte, von einem weisen alten Mann gehört zu haben, der weit entfernt in einer Klause in den hohen Bergen wohnte und als der beste aller Ratgeber galt. Die Zeit drängte, man entschied, den weisen Mann an den Hof des Maharadschas zu rufen und ihn zu beauftragen, den Herrscher von seiner Trauer zu befreien und von seinem Schmerz über die verlorene Frau abzulenken.