Die Ehre des menschlichen Geistes, so sagte der berühmte Königsberger Mathematiker Jacobi, ist der einzige Zweck aller Wissenschaft.“
27 Ursprünglich hatte Schrödinger die Gleichung für ψ unter Berücksichtigung der Speziellen Relativitätstheorie Albert Einsteins aufgestellt. Weil ihm jedoch einige der möglichen Lösungen zu kurios schienen, formulierte er die Gleichung ohne Relativitätstheorie um. In dieser vereinfachten, unter dem Namen Schrödingergleichung bekannten Form, konnten die Quantentheoretiker sehr präzise die Eigenschaften der Atome und Moleküle beschreiben, denn in diesem Kontext spielt die Spezielle Relativitätstheorie praktisch keine Rolle. Schrödingers Kollege Paul Dirac nahm Schrödingers ursprüngliche Idee wieder auf und schrieb die Gleichung für ψ unter Einbeziehung der Speziellen Relativitätstheorie. Für jene Lösungen, die Schrödinger als zu kurios erachtete, fand Dirac physikalisch sinnvolle Deutungen. So ergab sich aus Diracs Gleichung, dass es zu jedem Elementarteilchen ein durch die entgegengesetzte Ladung gekennzeichnetes Antiteilchen geben müsse. Spätere Experimente bestätigten glanzvoll Diracs theoretische Vorhersage. Eine ψ-Gleichung unter Einbeziehung der Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins steht allerdings noch immer aus.
28 Einer launigen Legende zufolge soll ein Skeptiker Hilbert gegenüber geklagt haben, dass in seiner Geometrie nicht klar sei, worum es sich bei „Punkten“, „Geraden“ und „Ebenen“ eigentlich handle. In den Axiomen würden diese Begriffe wie sinnentleerte Wörter stehen und ihrer anschaulichen Bedeutung verlustig gehen. „Ganz recht“, soll Hilbert seinem Kollegen geantwortet haben, „auf das Wesen eines Begriffes kommt es in der formalen Mathematik nicht an.“ Man könne, so Hilbert, in seinem Axiomensystem statt „Punkte, Geraden und Ebenen“ jederzeit auch „Tische, Stühle und Bierseidel“ sagen.
29 Ganz so unerheblich ist die Frage nicht, ob endlich oder unendlich viele Nullen in der Dezimalentwicklung von π auftauchen. Man stelle sich die folgende Konstruktion einer Menge vor: Bei der ersten Null, die man in der Dezimalentwicklung von π findet, teilt man die Zahl 1 der Menge zu. Sobald man eine zweite Null in der Dezimalentwicklung von π findet, nimmt man zusätzlich 1/2 in die Menge auf. Sobald man eine dritte Null in der Dezimalentwicklung von π findet, nimmt man zusätzlich 1/3 in die Menge auf. Allgemein kommt auch die Bruchzahl 1/n in die Menge, wenn man bereits n Nullen in der Dezimalentwicklung von π gefunden hat. Die Frage, ob endlich oder unendlich viele Nullen in der Dezimalentwicklung von π auftauchen, ist somit zur Frage gleichwertig, ob diese Menge aus endlich oder aus unendlich vielen Elementen besteht.
Diese Frage aber rührt an die Axiome des Rechnens mit unendlichen Dezimalzahlen. Denn die genannte Menge besteht aus lauter positiven Bruchzahlen und muss daher nach einem fundamentalen Axiom ein sogenanntes Infimum besitzen. Damit ist eine unendliche Dezimalzahl x gemeint, welche die folgenden beiden Eigenschaften besitzt: Einerseits ist jeder Bruch aus der Menge mindestens so groß wie x. Andererseits gibt es zu jedem y, das größer als x ist, einen Bruch aus der Menge, der kleiner als y ist.
Wie groß aber ist dieses Infimum x?
Wenn nur endlich viele Nullen in der Dezimalentwicklung von π auftauchen, dann ist x = 1/m jener positive Bruch, für den m die Anzahl der Nullen in der Dezimalentwicklung von π bezeichnet.
Wenn hingegen unendlich viele Nullen in der Dezimalentwicklung von π auftauchen, dann ist x = 0.
Und wenn es kein Ignorabimus geben darf, dann muss Hilbert entscheiden können, ob x positiv ist oder nicht. Somit führen selbst scheinbar unerhebliche Fragen zu diffizilen Problemen, die an den Grundfesten des Denkens rütteln.
30 Mit diesem Wort bringt Hermann Weyl in seiner Schrift „Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik“ die Auffassung Hilberts am klarsten zum Ausdruck.
31 So schreibt es Anita Ehlers in ihrem schönen Buch „Liebes Hertz! Physiker und Mathematiker in Anekdoten“.
32 Henri Cartan und André Weil, zwei junge französische Mathematiker, die gemeinsam studiert hatten und zu Beginn der Dreißigerjahre an der Université Strasbourg wirkten, organisierten am 10. Dezember 1934 anlässlich ihrer regelmäßigen Teilnahmen an mathematischen Seminaren in Paris im Café Capoulade am Boulevard Saint-Michel ein Treffen mit anderen befreundeten jungen Kollegen. Die Gruppe beschloss, den veralteten Lehrbüchern der Universitäten ein modernes Werk entgegenzustellen. Es sollte sich dem Vortragsstil David Hilberts und Emmy Noethers angleichen, bei denen einige der Freunde Vorlesungen gehört hatten.
Wichtig war allen, dass dieses neu zu schaffende Lehrbuch die gesamte Mathematik von Grund auf präsentieren sollte. Mathematik war dabei in ihren Augen ein großes Spiel, eine Art überdimensionales Schach, so wie es Hilbert in seinem Programm vorschwebte.
Die jungen Mathematiker im Café Capoulade waren allesamt ausgefuchste Könner des mathematischen Spiels. Sie hatten es in ihrem Studium an der École Normale Supérieure, einer der Eliteschulen Frankreichs, ausgiebig gelernt. Einst trat Raoul Husson, ein Kommilitone, in Verkleidung eines bärtigen alten Professors im Seminarraum auf und dozierte, wobei er eine falsche Behauptung auf die andere folgen ließ. Die Aufgabe der Hörer war es, die Fehler in den Behauptungen des verkleideten Raoul Husson aufzudecken. Alle fanden diesen Auftritt sehr witzig, und am besten gefiel ihnen die letzte bizarre Behauptung des falschen Professors, die er das „Theorem von Bourbaki“ nannte. Jeden seiner falschen Sätze verband Raoul Husson nämlich mit einem bedeutend klingenden Namen eines fiktiven Mathematikers; in Wahrheit waren es aber Namen von Generälen der französischen Armee. Das „Theorem von Bourbaki“ benannte er zum Beispiel nach dem im deutsch-französischen Krieg von 1870 bis 1871 kämpfenden General Charles Sauter Bourbaki. In Erinnerung an ihre damaligen Studentenstreiche vereinbarten die nun jungen Professoren des Café Capoulade, sich hinter dem Pseudonym „Bourbaki“ zu verbergen: Der erfundene Mathematiker Nicolas Bourbaki sollte ihr Buch als Autor zieren. Später behaupteten sie, dass dieser Nicolas Bourbaki Mitglied der Akademie der Wissenschaften von Nancago sei. Doch den Ort Nancago gibt es genauso wenig, wie es den Mathematiker Bourbaki gibt. Es ist eine Verballhornung gebildet aus Nancy und Chicago, zwei Universitätsstädten, an denen einige Angehörige der sich hinter Bourbaki verbergenden Gruppe lehrten.
Anfangs glaubte Bourbaki – wir lassen uns auf die Marotte der Gruppe ein und tun so, als ob er wirklich als Mathematiker existierte –, dass sein Lehrbuch in drei Jahren fertig geschrieben sei. Aber das Unternehmen erwies sich als weitaus aufwendiger, als es sich auf den ersten Blick ausnahm. Erst 1939 erblickten die ersten Bände seines monumentalen Werks, das den Namen „Éléments de Mathématique“, also „Elemente der Mathematik“ trug, das Licht der Welt. Und über Jahrzehnte hinweg wurden die Éléments de Mathématique um Folgebände erweitert. Vollendet wurde das Werk nie. Es verendete regelrecht, weil kaum mehr ein Mitglied der Gruppe den Überblick bewahren konnte. „Bourbaki ist ein Dinosaurier, dessen Kopf zu weit von seinem Schwanz entfernt ist“, behauptete zynisch Pierre Cartier, der von 1955 bis 1983 dem Bourbaki-Kreis angehörte. Dass Nicolas Bourbaki am 11. November 1968 friedlich in Nancago entschlafen sei und am 23. November 1968 um 15 Uhr im „Friedhof der Zufallsvariablen“ seine Beisetzung stattfinden werde, wurde in einer – niemand weiß, von wem verfassten – Parte mit hämisch gespielter Trauer verkündet.