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Das Buchprojekt „Éléments de Mathématique“ des Nicolas Bourbaki erinnert an das erste Mathematiklehrbuch der Geschichte, an die „Elemente“ des griechischen Mathematikers Euklid. Wobei es, nebenbei bemerkt, einige Wissenschaftshistoriker gibt, die behaupten, auch Euklid habe es in Wahrheit nie gegeben. Auch hinter diesem Namen verberge sich ein Kollektiv von Gelehrten aus dem antiken Alexandria.

33 Ganz knapp nach dem Ersten Weltkrieg, noch bevor Weyl seinen engagierten und gegen die Position Hilberts gerichteten Artikel verfasst hatte, wurde eine einzigartige Gelegenheit verpasst, welche der Mathematik des 20. Jahrhunderts einen völlig anderen Verlauf verleihen hätte können. Denn trotz ihrer verschiedenen Auffassungen vom Unendlichen schätzte Hilbert seinen holländischen Kollegen Brouwer wegen anderer seiner mathematischen Schriften als tiefen Denker und eminenten Forscher. Hätten sie, bevor sie sich in ihre Positionen mit unnachgiebiger Härte verbohrten, einander getroffen und aussprechen können, wäre nicht nur Weyl, sondern möglicherweise auch sein ehemaliger Lehrer Hilbert von Brouwers Gedanken überzeugt worden. Die Chance ergab sich, als Brouwer während der Sommerferien kurz nach 1918 Weyl im Engadin besuchte und ihn für seine Sicht des Unendlichen begeisterte. Nur ein paar Tage früher war auch Hilbert in die Schweiz gereist; Brouwer schrieb eine Postkarte an Hilbert, in der er zutiefst bedauerte, ihn nicht persönlich getroffen zu haben …

34 Als der Streit zwischen Brouwer und Hilbert über fachliche Probleme hinaus sogar persönlich wurde, schlugen beide voneinander unabhängig vor, dass sich Albert Einstein als Schiedsrichter einmischen solle. Dieser lehnte dies ab, die Auseinandersetzung um die Grundlagen der Mathematik war ihm lästig, und er nannte den ganzen Hader einen „Krieg zwischen Fröschen und Mäusen“.

35 Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die Methode Gödels zu erörtern. Hermann Weyl hat darüber in der Überarbeitung seines Buches „Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft“ berichtet. Es mag der Hinweis genügen, dass der zentrale Gedanke Gödels darin besteht, die Aussagen über das formale System so zu codieren, wenn man so wilclass="underline" zu verschlüsseln, dass sie sich in arithmetische Aussagen verwandeln, die somit im System selbst integriert sind. Die Codierung erfolgt bemerkenswerterweise mit Hilfe der Primzahlen. Sie spielen also auch bei der von Gödel ersonnenen „Verschlüsselung“, die man heute „Gödelisierung“ nennt, eine herausragende Rolle.

36 Das Thema von Gödels Dissertation war die Vollständigkeit des logischen Kalküls. Die reine Logik, die noch nicht die Arithmetik der Zahlen umfasst, ist ein vollständiges und widerspruchsfreies System. Mit dieser Aussage trug Gödel zum Fortschritt von Hilberts Programm bei. Umso überraschender war daher sein Unvollständigkeitssatz.

37 Ein Beispiel dafür ist der Satz von Goodstein, den wir in Anmerkung 10 kennengelernt hatten. 1982 bewiesen die beiden britischen Mathematiker Laurence Kirby und Jeffrey Bruce Paris, dass es eine widerspruchsfreie Mathematik gibt, in der Goodsteins Satz zutrifft, dass es aber eine ebenso widerspruchsfreie Mathematik gibt, in der Goodsteins Satz falsch ist.

38 Eine ähnliche Wette schloss 1918 Hermann Weyl vor zwölf Mathematikern als Zeugen mit seinem Kollegen György Pólya ab: Weyl setzte darauf, dass innerhalb der nächsten zwanzig Jahre die überwiegende Mehrheit der Mathematiker ihre Wissenschaft in dem von Poincaré, Brouwer und ihm skizzierten Sinn betreiben und das blinde axiomatische Regelspiel als sinnlos erachten werde, so sinnlos wie – so formulierten Weyl und Pólya es in ihrer Wette – die hegelsche Naturphilosophie. Als nach den zwanzig Jahren die beiden Kontrahenten vor einer Schar anderer Mathematiker wieder zusammenkamen, um festzustellen, wer gewonnen habe, war für fast alle, auch für Hermann Weyl klar, dass Pólya siegte: Praktisch alle Mathematiker betreiben ihre Wissenschaft so, als ob sie allwissend und allmächtig über das Unendliche verfügen können, und falls dabei Widersprüche am Horizont drohen, flüchten sie in den nur scheinbar sicheren Hafen des Regelspiels mit Axiomen. John von Neumann beschreibt diesen Sachverhalt in dem Aufsatz „The Mathematician“, der 1947 in dem von R. B. Heywood herausgegebenen Sammelband „The Works of Mind“ erschien, folgendermaßen:

„Nur sehr wenige Mathematiker waren bereit, die neuen anspruchsvollen Maßstäbe“ – gemeint ist die strenge „intuitionistische“ Mathematik von Brouwer und Weyl – „zu akzeptieren und bei ihrer eigenen Arbeit anzulegen. Sehr viele jedoch gaben zu, dass Weyl und Brouwer prima facie recht hätten. Sie selbst jedoch sündigten weiterhin, das heißt: betrieben ihre eigene Mathematik in der alten ,einfachen‘ Methode weiter – vermutlich in der Hoffnung, dass schon irgendjemand irgendwann einmal die Antwort auf die intuitionistische Kritik finden werde und ihre Arbeit dadurch a posteriori gerechtfertigt würde.“

„Zur Zeit“, schreibt von Neumann ferner in diesem Aufsatz, „ist der Streit um die ,Grundlagen‘ bestimmt noch nicht beigelegt, aber es scheint sehr unwahrscheinlich zu sein, dass man, abgesehen von einer kleinen Minderheit, das klassische System fallen lässt.“

Und ins Persönliche gewandt gibt von Neumann unumwunden zu: „Dies geschah zu meinen Lebzeiten, und ich weiß, wie erniedrigend leicht sich meine Ansichten über die absolute mathematische Wahrheit während dieser Ereignisse geändert haben, ja wie sie sich sogar dreimal hintereinander geändert haben!“

Weyl musste also nolens volens eingestehen, dass er die mit Pólya vor mehr als zwei Jahrzehnten abgeschlossene Wette verloren hatte. Pólya verzichtete großzügig darauf, dass Weyl seine Schlappe in einem Artikel veröffentlichte. Nur ein einziger der Anwesenden, die über Sieg oder Niederlage von Weyls Wette entschieden, hatte nicht für Pólya gestimmt: Kurt Gödel.