Als der weise Mann in das Gemach des Maharadschas trat, trug er ein quadratisches Brett mit sich, das in acht mal acht quadratische Felder, abwechselnd schwarz und weiß gefärbt, unterteilt war: ein Schachbrett. Vor den tränenüberströmten Augen des Maharadschas, der ihm gegenübersaß, legte er das Brett auf den Tisch und stellte eigenartige Holzfiguren auf die Felder: acht sogenannte Bauern auf der vorletzten Reihe und auf der letzten Reihe von außen nach innen je zwei Türme, zwei Springer und zwei Läufer. Ganz im Inneren der letzten Reihe einen König, das Abbild eines Maharadschas, und eine Dame, das Abbild seiner Frau. Die Figuren, die der weise Mann auf seiner Seite des Brettes aufstellte, waren schwarz, und dann stellte er die gleichen Figuren in Weiß in der gleichen Formation auf der Seite des Maharadschas auf. Der weise Mann erklärte wie in einem Selbstgespräch – der Maharadscha blickte scheinbar teilnahmslos zu, aber der weise Mann wusste sehr gut, dass er seine Worte genau hörte –, wie die einzelnen Figuren gezogen werden: die Türme zum Beispiel nur waagerecht und senkrecht, die Läufer nur schräg, der König majestätisch, aber schwerfällig, immer nur ein Feld weiter, die Dame jedoch – der Maharadscha horchte merkbar auf –, die Dame ist die mächtigste Figur: Sowohl waagerecht, wie auch senkrecht, wie auch schräg darf sie sich in alle Richtungen beliebig weit bewegen. Auch erläuterte der weise Mann die Bewegungen der Bauern und der Springer, wie Figuren geschlagen werden und was „Schach“ und „Schachmatt“ bedeuten.
„Wollen wir vielleicht eine Partie versuchen?“, fragte dann der weise Mann charmant, und nach so viel Bemühungen um die Vorbereitung konnte der Maharadscha ihm diese Bitte nicht abschlagen. Also nickte er und begann mit dem ersten Zug. Unter der einfühlsamen Anleitung des weisen Mannes gelang es dem Maharadscha sogar, die Partie zu gewinnen. „Nun aber verlange ich Revanche“, sagte der weise Mann, als er Schachmatt gesetzt wurde. Und in der zweiten Partie unterlag der Maharadscha. „Nun verlange ich Revanche“, forderte darauf dieser, und der weise Mann willigte ein, aber erst für den Morgen des nächsten Tages. Für heute sei es genug, es gelte, die Tagesgeschäfte des Regierens zu erledigen.
Tatsächlich gelang es dem weisen Mann, den Maharadscha von seiner Trauer abzulenken. Wie früher wurde das Land wieder klug und gerecht regiert, der Wohlstand des Bevölkerung kehrte zurück, die Ernten waren wieder üppig und die Reislager überfüllt. Jeden Morgen spielten der Maharadscha und der weise Mann zwei Partien Schach, wobei sich der Maharadscha mit der Zeit zu einem begnadeten Schachspieler entwickelte. Und danach widmete sich der Maharadscha seinen Regierungsgeschäften und der weise Mann seinen Meditationen.
So ging es über Wochen und Monate, bis der weise Mann eines Tages dem Maharadscha eröffnete, dass er seine Aufgabe in diesem Land als erfüllt betrachte und wieder in die hohen Berge zurückkehren wolle. „Aber ich kann dich nicht ohne Lohn ziehen lassen“, entgegnete ihm der Maharadscha, „wünsche dir, soviel du willst, ich werde es dir geben. Denn im Vergleich zu meiner Trauer, von der du mich erlöst hast, kannst du dir gar nicht zu viel wünschen.“
„Unermesslich viel soll ich mir wünschen?“, fragte der weise Mann. Als der Maharadscha mit heftigem Nicken bejahte, nahm der weise Mann ein Reiskorn und legte es auf das erste Feld links oben auf das Schachbrett. „Nun gib auf das jeweils nächste Feld doppelt so viel Reis wie auf das vorige, und den ganzen Reis, der sich auf dem Schachbrett stapelt, den magst du mir geben.“
„So wenig!“, empörte sich der Maharadscha, beruhigte sich aber gleich, weil ihm in den Sinn kam, dass der weise Mann zeit seines Lebens fast nichts besessen hatte und eine Schüssel Reis für ihn ein Vermögen bedeutete. Ein Diener wurde gerufen, er solle einen Löffel Reis bringen und die Körner nach der Regel auf die Felder legen, dass er links oben mit einem Korn beginnt und danach auf jedes folgende Feld doppelt so viel geben soll wie auf das vorherige. Also begann der Diener den Reis auf die oberste Reihe der ersten acht Felder aufzuteilen:
1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128
Körner. Nachdem der Diener die 128 Körner abgezählt hatte – insgesamt wurden bisher 255 Körner verteilt –, war der Löffel leer. Darum kam auf das erste Feld der zweiten Reihe ein ganzer Löffel Reis. Und auf den folgenden Feldern musste die Menge verdoppelt werden. Daher hatte der Diener auf die acht Felder der zweiten Reihe
1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128
Löffel Reis aufzuteilen. 128 Reislöffel, dies ist ein halber Topf Reis. Nun wurde bereits eine ganze Dienerschaft beauftragt, den Reis im Saal zu stapeln. Für die acht Felder der dritten Reihe waren
1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128
Töpfe Reis herbeizuschaffen. Jetzt dämmerte dem Maharadscha, dass er dem weisen Mann eine große Menge Reis überlassen musste. Denn 128 Töpfe Reis, entsprechen schon einem 50 Kilogramm schweren Sack Reis. Ab nun begnügte man sich damit, nur die zur Verfügung zu stellende Menge Reis aufzuschreiben: Für die acht Felder der vierten Reihe waren es
1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128
gewaltige Reissäcke, jeder 100 Kilogramm schwer. Auf dem letzten Feld muss man sich so viel Reis aufgestapelt denken, wie eine Kolonne von einem Dutzend Ochsenwägen, alle mit Reis beladen, tragen können.
Die Reisernte im Land des Maharadschas war dieses Jahr phänomenal. Vielleicht, so hoffte der Herrscher, würde es sich gerade noch ausgehen. Aber im Verlauf der Rechnungen, wie viel Reis auf die Felder der fünften Reihe zu stapeln sei, musste der Maharadscha aufgeben. Es war einfach zu viel.
Der weise Mann wusste es – wenigstens ungefähr. Mit Hilfe der Ziffer Null gelingt es, die Menge des Reises auf dem Schachbrett abzuschätzen: Auf dem ersten Feld ist nur ein Korn, und danach kommt es zum dauernden Verdoppeln. Die Zahl der Körner auf den nächsten zehn Feldern lautet daher:
2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512, 1024.
Auf dem 11. Feld sind daher 1024 Reiskörner. Wollen wir großzügig sein und statt 1024 nur 1000 Körner auf das elfte Feld legen. Dann ist die Zahl der Körner auf den folgenden zehn Feldern jeweils
2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512, 1024
mit 1000 multipliziert. Wenn wir, wie oben, den letzten Faktor 1024 großzügig durch 1000 ersetzen, finden wir daher auf dem 21. Feld mehr als 1000 × 1000 = 1 000 000 = 106 Körner. So geht dies weiter: Zehn Felder später, auf dem 31. Feld, sind mehr als 1000 × 106 = 109 Körner, weitere zehn Felder später, auf dem 41. Feld sind mehr als 1000 × 109 = 1012 Körner, auf dem 51. Feld sind mehr als 1000 × 1012 = 1015 Körner, und auf dem 61. Feld mehr als 1000 × 1015 = 1018 Körner. Das ist eine Menge von mehr als einer Trillion Reiskörnern. Auf dem 62., 63. und 64. Feld kommen daher mehr als zwei Trillionen, vier Trillionen, acht Trillionen Reiskörner zu liegen. Die Summe der Zahlen aller Reiskörner auf dem ganzen Schachbrett beträgt daher mehr als 16 Trillionen. Wer es genau wissen wilclass="underline" 3 Die Summe der Zahlen aller Reiskörner auf dem ganzen Schachbrett lautet 18 446 744 073 709 551 615!
Wie geht die Geschichte vom Maharadscha und dem weisen Mann zu Ende? Wir wissen es nicht. Es mag sein, dass der Maharadscha dem weisen Mann, nachdem er bestürzt festgestellt hatte, dass er unmöglich mehr als 16 Trillionen Reiskörner auftreiben kann, die folgende Antwort gab:
„So viel Reis kannst du doch gar nicht in deine Klause bringen. Nicht einmal, wenn ich dir alle meine Diener als Träger zur Verfügung stelle.“
„Du hast recht, das ist undenkbar“, antwortete der weise Mann. „Würde man den Reis aufschichten, entstünde eine Pyramide, ähnlich den hohen Pyramiden von Gizeh im fernen Ägypten. Aber diese Pyramide wäre viel größer: Nicht 140 Meter, wie die Pyramide des Cheops, sondern fast fünf Kilometer wäre sie hoch. Mehr als 40 000-mal passte die Cheopspyramide in sie hinein.“