»Die Zerstörung der Stadttore.«
»Das ist lächerlich.«
»Allerdings.«
»Das werden sie nicht erreichen, niemals.«
»Nein«, erwiderte ich. »Niemals.«
7
Wir wurden ständig angerempelt.
»Hörst du die Stäbe?« fragte Marcus.
»Sie verkünden die Freude«, antwortete ich.
Es war nun zwei Tage her, daß wir die ersten Bekanntmachungen der versöhnlichen Botschaft von Lurius von Jad an den Anschlagtafeln gelesen hatten.
»Heil Ar! Heil Cos!« riefen die Menschen um uns herum. Es war schwierig, auf den Füßen zu bleiben.
»Kommen sie endlich?« rief ein Mann.
»Ja«, antwortete ein anderer und schob sich auf die Straße.
»Zurück«, sagte ein Stadtwächter. »Zurück.«
Wir hatten diesen günstigen Platz gewählt, am Morgen in aller Frühe, zur zweiten Ahn. Trotzdem hatten sich hier bereits viele Menschen versammelt, einige mit Decken, um auf dem Steinboden schlafen zu können. Es handelte sich um einen offenen Platz in der Nähe des Zentralzylinders, der sich inmitten eines kreisrunden Parks genau im Mittelpunkt der Straße erhob, dessen freies Gelände sich gut verteidigen ließ.
»Glück und Segen für Ar! Glück und Segen für Cos!« rief ein Zuschauer.
Viele Leute hielten kleine cosische Fähnchen in den Händen, mit denen sie winken konnten. Auch das Banner von Ar war oft zu sehen.
Vorgestern nacht, nachdem wir die Bekanntmachung gelesen hatten, waren die Tore von Ar ausgehängt und verbrannt worden. Einige Bürger hatten versucht, sich dagegenzustellen, waren aber mit Schlagstöcken und Klingen von ihrem Vorhaben abgebracht worden. Es hatte sogar vereinzelt Meutereien kleiner Einheiten von Stadtwächtern gegeben, die entschlossen gewesen waren, ihre Posten zu halten, aber sie waren beendet worden, als man erfuhr, daß der Befehl vom Zentralzylinder gekommen war. Zwei der bewaffneten Widerstandszellen, die weder vernünftigen Argumenten noch Befehlen zugänglich waren, wurden von den Taurentianern blutig ausgelöscht. Anscheinend war Gnieus Lelius gestürzt worden, und Seremides hatte – mit Hilfe einer Militärrevolte, die er selbst als bedauerlich bezeichnete – für eine Übergangszeit die Macht an sich gerissen, eine Macht, die er so lange behalten wollte, bis der Hohe Rat, jetzt die höchste zivile Autorität, einen neuen Führer wählen konnte, sei es ein Administrator, ein Regent, ein Ubar oder eine Ubara.
»Ich hätte niemals gedacht, einmal die Tore Ars brennen zu sehen«, sagte Marcus, »noch dazu von den eigenen Bürgern angezündet.«
»Nein«, sagte ich.
Man hatte die Eisenplatten abgerissen, um sie einzuschmelzen. Dann waren die riesigen Holzbohlen zerschlagen, zu gigantischen Scheiterhaufen aufgetürmt und verbrannt worden. Ich glaube, man konnte ihr Licht noch in einer Entfernung von fünfzig Pasang sehen. Marcus, Phoebe und ich hatten eine Zeitlang zugesehen, wie das große Stadttor brannte. Viele Bürger der Stadt waren herausgekommen, um ebenfalls zuzusehen, manche voller Trauer, andere ungläubig oder wie betäubt. Wir konnten ihre Gesichter in dem Licht sehen. Viele hatten geweint. Einige klagten lautstark, rauften sich das Haar und rissen an ihrer Kleidung. Noch hundert Schritte von den Flammen entfernt war es unerträglich heiß gewesen, so groß war die entstehende Hitze gewesen. Ich war oft an dem Tor vorbeigegangen.
In der Ferne ertönte Jubel.
»Die Cosianer haben die Stadt betreten«, sagte Marcus.
»Endlich sind wir frei!« rief ein Zuschauer.
»Wir sind befreit worden!« jubelte ein anderer und schwenkte ein cosisches Fähnchen.
Die Stadt war mit Schleifen und Girlanden geschmückt. Inmitten des Lärms der Alarmstäbe und des Jubels der Menge fiel es mir schwer, Marcus zu verstehen.
»Gab es je einen Tag in Ar, an dem es Grund für ein solches Fest gab?« fragte mich ein Mann.
»Kann ich nicht sagen«, gab ich zur Antwort. Schließlich stammte ich nicht aus Ar.
In der Ferne ertönten Fanfaren und Trommelschlag.
»Glaubst du, Cos wird die Stadt jetzt brandschatzen und plündern?« fragte Marcus.
Ich schüttelte den Kopf.
»Sie sind innerhalb der Stadtmauern.«
»Ausgesuchte, disziplinierte Einheiten, vermutlich überwiegend reguläre Truppen.«
»Du rechnest nicht damit, daß sie Ar niederbrennen?«
»Nein«, sagte ich. »Ar ist eine prächtige Beute, in seinem jetzigen Zustand sicherlich wertvoller als ein Aschehaufen.«
»Werden sie die Bevölkerung nicht abschlachten?«
»Das bezweifle ich«, sagte ich. »Hier gibt es ein großes Reservoir an Fertigkeiten und Talenten. Auch das gehört zur Beute.«
»Aber sie werden doch wohl die Stadt plündern!«
»Vielleicht im Laufe der Zeit.«
»Was willst du damit sagen?«
»Studiere die Feldzüge Dietrichs von Tarnburg«, erwiderte ich.
Marcus blickte mich an.
»Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß Myron, der Polemarkos von Cos, oder seine Berater das getan haben.«
»Du sprichst in Rätseln«, sagte Marcus.
»Ich kann sie sehen!« rief ein Mann.
»Seht doch, dort, am Zentralzylinder!« rief ein anderer Zuschauer.
Am Rand des kreisrunden Parks, in dem sich der Zentralzylinder erhob, war eine Plattform errichtet worden, vermutlich damit die zahllosen Bürger, die sich in den Straßen versammelt hatten, die zu erwartenden Geschehnisse verfolgen konnten. Wir standen nur wenige Meter von der Plattform entfernt. Sie konnte von zwei Seiten bestiegen werden; eine Rampe befand sich an der Rückseite, die auf den Zentralzylinder hinaussah, die andere vorn, zur Straße des Zentralzylinders hin. Phoebe klammerte sich an Marcus fest, damit sie in der Menge nicht von uns getrennt wurde.
»Dort, am Fuß der Plattform!«
»Dieser Sleen! Der Schuft, der Tyrann!«
Haßerfüllte Rufe waren zu hören. Kinder zerrten eine traurige Gestalt an einem Dutzend Ketten heran, die an dem schweren Eisenkragen um ihren Hals befestigt waren. Der Mann stolperte, da seine Füße aneinandergefesselt waren; der Oberkörper war fast völlig unter Ketten verborgen. Es war Gnieus Lelius. Fünf Kinder mit Peitschen schwirrten wie Stechfliegen um ihn herum. Gelegentlich erhielten sie die stumme Erlaubnis der aufmerksam wachenden Taurentianer, auf die sie begierig warteten, dann stürmten sie vor und schlugen auf ihn ein. Das entlockte den Zuschauern fröhliches Gelächter. Gnieus Lelius war barfuß. Darüber hinaus hatte man ihn in Lumpen gesteckt, Lumpen von der Art, die Narren auf der Bühne trugen. Meiner Meinung nach war das nicht einmal das schlechteste. So hatte Gnieus Lelius immerhin die Hoffnung, dem Tod auf dem Pfahl auf den Mauern von Ar zu entgehen. Vielleicht schickte man ihn zum Palast von Telnus, damit er dort als Hofnarr in einem Käfig Lurius und seinen Hof erheiterte.
»Sleen! Tyrann!«
Ein paar Männer stürmten los und bewarfen ihn mit Ostraka. »Hier, nimm deine Ostraka, Tyrann!« riefen sie. Gnieus zuckte zusammen, als ihn einige der Geschosse trafen. Es waren dieselben Ostraka, die noch vor ein paar Tagen ihr Gewicht in Gold wert gewesen waren, Passiermarken, die das Aufenthaltsrecht in der Stadt garantierten. Nach dem Verbrennen der Tore mußte man sich natürlich nicht länger um Dinge wie Ostraka und Passiermarken kümmern.
»Wir sind jetzt frei!« brüllte ein Mann und schleuderte sein Ostrakon auf Gnieus Lelius.
Bürger stürmten herbei, um sich auf den einstigen Regenten zu stürzen, aber die Taurentianer trieben sie mit gezielten Stößen ihrer Speerschäfte zurück.
Sie zerrten Gnieus Lelius über die Vorderrampe auf die Plattform. Viele Zuschauer, die ihn zuvor nicht hatten sehen können, brüllten nun ihren Haß heraus. Oben angekommen, zwang man ihn auf die Knie, die Kinder befestigten die Ketten an vorher kreisförmig im Boden versenkten Halteringen und verschwanden dann. Die fünf Jungen mit den Peitschen erhielten zum Vergnügen der Menge ein letztes Mal Gelegenheit, den einstigen Regenten zu schlagen, bevor man auch sie wegschickte.
Die Trommeln und Fanfaren waren schon näher gekommen.
»Seht doch, dort!« rief ein Zuschauer. Er zeigte in Richtung Zentralzylinder, aus dem vor wenigen Augenblicken Gnieus Lelius und seine Eskorte gekommen waren.