Die Cosianer kamen mit Trommelwirbel und einem Fanfarenstoß nur wenige Meter vor der Vorderrampe zum Stehen.
Ich glaubte sehen zu können, daß Talena dort oben auf der Plattform erzitterte. Vielleicht erkannte sie in diesem Augenblick, was es bedeutete, die Cosianer in der Stadt zu haben. Begriff sie plötzlich, wie verwundbar sie und Ar tatsächlich waren, daß diese Männer tun konnten, was immer ihnen in den Sinn kam? Sie trug das weiße Büßergewand. Der Büßer hat unter dem Stoff eines solches Gewandes nackt zu sein. Doch ich bezweifelte, daß Talena unter dem Stoff nackt war. Sie wollte höchstens, daß die guten Bürger glaubten, sie sei es.
Einen Augenblick lang schien eine unheilverkündende Stille einzukehren. Hätte ich gesprochen, hätte man es sicher meterweit hören können, so still war die zusammengedrängt stehende Menge.
»Myron«, ertönte ein Flüstern. »Myron, der Polemarkos von Cos!«
Ich sah nichts außer der Menge, der Plattform, den dort oben stehenden Leuten und den Cosianern.
»Er kommt!«
Falls es sich tatsächlich um den Polemarkos handelte, mußte er sich seiner Sache sehr sicher sein, um Ar auf eine solche Weise zu betreten. Ich glaube nicht, daß Lurius von Jad es getan hätte. Lurius verließ nur selten die Umgebung seines Palastes in Telnus. Mehr als ein triumphaler Einzug in eine goreanische Stadt war vom Bolzen eines Attentäters verdorben worden.
»Ich sehe ihn«, sagte ich zu Marcus.
»Ja, ich auch.« Phoebe stand auf den Zehen und klammerte sich an Marcus’ Arm, während sie den schlanken, süßen Körper ganz gerade hielt und den Nacken gestreckt hatte. Doch ich bezweifelte, daß sie viel sehen konnte. Der enganliegende Eisenkragen schmiegte sich aufregend um ihren Hals. Der Kragen und sein Schloß steigern die Schönheit einer Frau beträchtlich.
Ein stattliches zweibeiniges Satteltharlarion mit aufwendigem Geschirr, polierten Krallen und sauber geputzten Schuppen kam vor den Standardartenträgern zum Stehen. Hinter ihm ritten weitere prächtige Tharlarion heran, die allerdings kleiner und weniger prächtig herausgeputzt waren. Myron oder derjenige, der in seinem Namen handelte, ließ sich mit Hilfe eines Abstiegsbügels, der durch das Gewicht des Reiters nach unten glitt, zu Boden sinken. Es war seltsam, den Mann zu sehen, von dem ich so viel gehört hatte. Er war ein großer Mann mit einem goldenen Helm, der von einem ebenfalls goldenen Helmbusch gekrönt wurde, und einem goldenen Umhang. Bewaffnet war er mit einem gewöhnlichen Gladius, dem Kurzschwert, der gebräuchlichsten Infanteriewaffe Gors, und einem Dolch. In der Sattelscheide steckte eine längere Waffe, ein Zweihänder, mit dem man andere Tharlarionreiter gut erreichen konnte, der nun aber dort verblieb. Im Sattelschuh steckte keine Lanze.
Er nahm den Helm ab und reichte ihn an einen seiner Adjutanten weiter. Er schien ein ansehnlicher Bursche mit langen Haaren zu sein. Begleitet von zwei weiteren Adjutanten, von denen jeder einen Tornister schleppte, schritt er zur Plattform hinauf.
Seremides ging ihm entgegen, zog das Schwert und hielt es ihm mit dem Griff entgegen.
»Myron nimmt sein Schwert nicht an!«
Tatsächlich hatte sich Myron mit einer großmütigen Geste geweigert, die Waffe Seremides’ anzunehmen, des Hohen Generals von Ar. Seremides steckte das Schwert zurück in die Scheide.
»Heil Cos! Heil Ar!« flüsterte ein Mann.
Ein Aufstöhnen durchlief die Menge, als Seremides die Hand nach Talena ausstreckte und sie Myron zuführte.
Die Töchter besiegter Ubars versüßen oft die Triumphe siegreicher Generäle. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Manchmal müssen sie nackt und in Ketten neben ihren Steigbügeln hermarschieren; manchmal sind sie nur eine Sklavin von vielen, die die andere Beute schleppen. Aber fast immer werden sie in aller Öffentlichkeit versklavt, entweder vor oder nach dem Triumph, entweder in ihrer Stadt oder der Stadt der Eroberers.
Myron verbeugte sich jedoch tief vor Talena, salutierte damit vor der Ehrbarkeit ihres Status als freie Frau.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Marcus.
»Warte ab.«
»Wird er sie jetzt nicht ausziehen und in Ketten legen lassen?« fragte Marcus.
»Sieh zu«, erwiderte ich.
»Noch vor Einbruch der Nacht wird sie als eine seiner Frauen in seinem Zelt liegen.«
»Du sollst zusehen.«
»Vielleicht kommt sie in die Lustgärten von Lurius oder die Unterkünfte seiner Haussklavinnen, falls sie für die Gärten nicht schön genug sein sollte.«
»Warte doch einen Moment ab.«
Wie ich nur zu gut wußte, war Talena eine außerordentlich schöne Frau, mit olivfarbener Haut und dunklen Augen und Haaren. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß sie es wert war, in den Lustgarten eines Ubars aufgenommen zu werden.
Myron wandte sich einem seiner beiden Adjutanten zu, die mit ihm die Plattform betreten hatten.
»Was wohl in dem Bündel steckt?« fragte ein Mann.
»Ein Sklavenkragen, Handschellen und so weiter«, erhielt er zur Antwort.
»Nein, seht doch«, sagte ein anderer Mann.
Myron zog einen schimmernden Schleier aus dem Tornister. Er schüttelte ihn aus und zeigte ihn der Menge.
»Das ist der Schleier einer freien Frau!« sagte ein Zuschauer.
Myron reichte ihn Talena, die ihn entgegennahm.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Marcus.
Ein Mann schnaubte verächtlich. »Das ist alles, was sie bekommen wird«, stieß er ärgerlich hervor.
»Ein Scherz der Cosianer. Sie werden ihn ihr abnehmen, wann immer sie wollen.«
»Cosische Sleen.«
»Wir müssen kämpfen.«
»Wir können nicht kämpfen«, sagte ein anderer Bürger. »Es ist hoffnungslos.«
Myron zog ein reichbesticktes Gewand der Verhüllung aus dem Tornister und zeigte es der Menge, wie er es zuvor mit dem Schleier getan hatte. Es wurde ebenfalls Talena übergeben.
»Warum geben sie ihr ein solches Gewand?«
»Das ist ein cosisches Gewand.«
»Vielleicht will Lurius von Jad der erste sein, der sie vollständig zu Gesicht bekommt, in seinen Lustgemächern.«
»Wehe Talena.«
»Wehe uns, wehe Ar!«
»Wir müssen kämpfen«, sagte der Mann, der das schon eben gesagt hatte.
»Aber das ist hoffnungslos!«
»Nein, seht doch«, unterbrach sie ein anderer Mann. »Er verbeugt sich wieder vor ihr. Myron, der Polemarkos, verbeugt sich vor unserer Talena!«
Auch Talena neigte nun den Kopf vor dem Polemarkos, sie tat es auffällig schüchtern, dankbar.
»Sie würdigt die Achtung, die er ihr entgegenbringt!« sagte ein Mann.
»Anscheinend will sie sich zurückziehen.«
»Arme, sittsame kleine Talena.«
Es sah wirklich so aus, als hege Talena, die nun, von Sittsamkeit überwältigt, das Gewand dankbar mit einer Hand umklammerte, während sie mit der anderen offenbar versuchte, an dem weißen Gewand herumzuzupfen, um die nackten Füße besser zu bedecken, den Wunsch, die Plattform zu verlassen.
Doch Seremides hielt sie sanft zurück.
Der Polemarkos trat an den Rand der Plattform. Gnieus Lelius kniete zu seiner Rechten.
Schließlich begann Myron zu sprechen. Er sprach mit klarer, energischer, weittragender Stimme. Außerdem sprach er deutlich und langsam.
»Ich überbringe euch Grüße von meinem Ubar Lurius von Jad, eurem Freund.« Er drehte sich zu Talena um, die ein Stück hinter ihm stand, während noch immer Seremides’ Hand auf ihrem Arm lag, als brauche sie dringend Unterstützung in diesen aufreibenden Augenblicken. »Zuerst«, fuhr Myron fort, »überbringe ich Grüße von Lurius von Jad an Talena von Ar, die Tochter des Marlenus von Ar, des Ubars aller Ubars!« Talena senkte den Kopf und nahm die Grüße entgegen.
Myron wandte sich wieder der versammelten Menge zu.
Talena zuerst zu grüßen war sehr eindrucksvoll gewesen, und ich hegte nicht den geringsten Zweifel, daß dies eine tiefere Bedeutung hatte. Außerdem war mir nicht entgangen, daß Cos sie als Marlenus’ Tochter nannte, obwohl Marlenus sie verstoßen hatte. Indem Cos sie als seine Tochter anerkannte, war klar, daß es sich kaum einem möglichen Thronanspruch von Seiten Talenas oder einer in ihrem Namen handelnden Seite in den Weg stellen würde.