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Lurius hätte es vermutlich nicht sonderlich geschätzt, daß Marlenus als Ubar der Ubars bezeichnet wurde, da er vermutlich der Meinung war, ihm stehe der Titel eher zu; von Myrons Standpunkt aus gesehen war die Bezeichnung jedoch vernünftig. Es war ein eindeutiger Appell an den Patriotismus der Arer. Diese Erwähnung Marlenus’ würde Talenas Bild in keiner Weise schädigen, sie aber stillschweigend als Tochter des Ubars aller Ubars bestätigen.

»Und Grüße an unsere Freunde und Brüder, die edlen Bürger von Ar!«

Die Zuschauer blickten einander an.

»Ab heute seid ihr frei!«

»Heil Cos! Heil Ar!« rief ein Mann lautstark.

»Der Tyrann, unser gemeinsamer Feind« – Myron zeigte auf Gnieus Lelius –, »ist besiegt!«

»Tötet ihn!« rief jemand, und der Ruf wurde sofort von anderen aufgenommen.

»Unseren Brüdern in Ar wünschen wir Frieden, Freundschaft, Freude und Liebe!« rief Myron.

Eines der Mitglieder des Hohen Rates, dem Anschein nach der Vorsitzende, der dem Regenten Lelius in zivilen Angelegenheiten direkt unterstellt gewesen war, so wie Seremides in militärischen Dingen, trat vor, um auf Myrons Worte etwas zu erwidern, wurde aber von Seremides mit einer Warnung zurückgehalten.

»Ich spreche für Talena von Ar, der Tochter Marlenus’ von Ar, dem Ubar der Ubars!« rief Seremides. »Im Namen der Bürger und des Heimsteins von Ar dankt sie unseren Brüdern und Freunden aus Cos, daß sie ihre Stadt und ihr Volk von dem Joch Gnieus Lelius’ befreit haben.«

Genau an dieser Stelle ertönten die Alarmstäbe des Zentralzylinders – zweifellos auf ein vorher abgesprochenes Signal hin –, nur Augenblicke später gefolgt von den anderen Stäben der Stadt. Aber man hatte den Eindruck, die Stäbe nicht hören zu können, so laut, wild, dankbar und erleichtert war der Jubel der Menge. Die Schreie waren ohrenbetäubend.

Auf der Plattform griffen Myron und seine Adjutanten in den zweiten Tornister, nahmen Hände voll Münzen heraus und warfen sie ins Volk. Männer griffen danach, so schnell sie konnten. Taurentianer traten zurück. Die Gefahr eines plötzlichen Aufstandes bestand nicht länger.

Während Myron und seine Helfer die Münzen verteilten, verließen Seremides, der der Menge zugewinkt hatte, Talena, die ebenfalls die Hand erhoben hatte, und der Hohe Rat die Plattform. Beinahe unbemerkt stieg gleichzeitig eine Abteilung Cosianer hinauf. Man stieß Gnieus Lelius’ Kopf nach unten. Eine etwa zwei goreanische Fuß lange Kette wurde ihm um den Hals gelegt und an der kurzen Kette befestigt, die seine Fußschellen zusammenhielt. Außerdem legte man ihm eine Leine um. Dann zog man ihn auf die Füße. Die Länge der neuen Halskette verhinderte, daß er aufrecht stehen konnte; er war gezwungen, tief gebückt zu gehen. Ein Taurentianer befreite ihn von dem schweren Eisenkragen mit den kreisförmig angebrachten Ketten, an denen ihn die Kinder auf die Plattform geführt hatten. Dann zerrten ihn die Cosianer an der Leine die Rampe hinunter, und Gnieus Lelius, der ehemalige Regent von Ar, der in ein Narrenkostüm gekleidet und dessen Oberkörper mit Ketten umwunden war und der wegen der kurzen Kette zwischen seinem Hals und seinen Fußfesseln tief gebückt gehen mußte, versuchte das Gleichgewicht zu bewahren und machte kleine Schritte.

Er stürzte zweimal, solange er in meinem Blickfeld war, und beide Male prügelte man ihn mit Speerenden wieder auf die Füße und stieß ihn eilig die Straße des Zentralzylinders entlang. Einige der Bürger, an denen er auf seinem Weg so hilflos und gefesselt vorüberkam, brüllten vor Lachen; andere machten ihrem Haß Luft und riefen ihm Beleidigungen zu, spuckten ihn an und versuchten ihn zu schlagen.

Meiner Meinung nach steckten hinter der Entscheidung der Verräterclique, Gnieus Lelius in ein Narrenkostüm zu stecken, politische Gründe. Sollte es ihm jemals gelingen, seine Freiheit wiederzuerlangen, würde es nicht nur mit ziemlicher Sicherheit seine Rückkehr zur Macht verhindern, sondern auch die Gründung einer Partei, die dies befürworten könnte. Tatsächlich würden sogar seine engsten Anhänger geneigt sein, den Betrug, dem er zum Opfer gefallen war, als gegeben hinzunehmen. Die Verräter mußten erkannt haben, daß viele Bürger Ars wußten oder es im Laufe der Zeit begreifen würden, daß Gnieus Lelius alles andere als ein Tyrann gewesen war, ganz gleich, welche Fehler er als Führer in einer Krisenzeit auch begangen haben mochte. Falls überhaupt, waren seine Fehler in seiner Toleranz, Kompromißbereitschaft und Duldsamkeit zu suchen, in einer Politik, die es Cos und seinen Partisanen erlaubt hatte, beinahe ohne jeden Widerstand in der Stadt zu agieren, in einer Politik, die zuließ, daß man ihm Ar entriß. Nein, würden sie vermutlich untereinander sagen, er war kein Tyrann, aber ein Narr.

Lurius von Jad wußte natürlich, daß Gnieus Lelius kein Tyrann war.

Ich blickte ihm nach. Vermutlich brachte man ihn nach Cos. Vielleicht würde er Lurius’ Hof als angeketteter Hofnarr schmücken. Vielleicht würde er irgendwann Bankettgäste unterhalten, an seiner Leine so tun, als wäre er ein Tanzsleen.

Die Münzen regneten noch immer herab, und die Menge bejubelte Myron.

Er und seine Adjutanten liefen die Rampe hinunter und saßen wenige Augenblicke später in ihren Sätteln. Sie drehten ihre Reittiere und trabten in südlicher Richtung davon. Myrons Helmträger schloß sich ihnen an. Es war ein geschickter Schachzug von ihm gewesen, der Menge sein Gesicht zu zeigen. Es kündete von Offenheit, Mut und Vertrauen. Er lächelte. Er winkte. Die Alarmstäbe dröhnten ihre Freude in die ganze Stadt hinaus. Die Menge zu beiden Seiten der Straße jubelte. Dann stimmten die Musikanten einen Marsch an, und die Standartenträger wandten sich um. Dann drehten auch die Soldaten von Cos um. Umgeben von der jubelnden Menge, begaben sie sich auf den Rückzug. Mädchen rannten herbei und überreichten den Soldaten Blumen. Einige der Männer banden sie sich an die Speere.

»Heil Cos! Heil Ar!« brüllten zahllose Bürger.

»Wir sind frei!« jubelten andere. »Lurius von Jad sei Dank!«

Kinder wurden auf Schultern gehoben, damit sie die Soldaten sahen. Tausende cosischer Fähnchen wurden geschwenkt. Beide Straßenseiten verwandelten sich in ein Meer aus Farben und Jubel. »Heil Seremides! Heil Talena!«

Ich blickte Marcus an.

Phoebe hielt den Kopf gesenkt; sie hatte die Augen geschlossen und hielt sich die Hände vor die Ohren, so groß war der Lärm.

Aber ein paar Ehn später löste sich die Menge auf, nachdem die Cosianer abgezogen waren. Ich sah zu der verlassenen Plattform hinüber. Dort hatte die barfüßige Talena gestanden, in einem Büßergewand. Der Sitte nach hätte sie unter dem Gewand nackt sein müssen, aber ich bezweifelte, daß sie nackt gewesen war. Ich fragte mich, was wohl geschehen wäre, wenn sich die Dinge anders als geplant entwickelt hätten, wenn zum Beispiel Myron ihr das Gewand ausgezogen und sie bekleidet vorgefunden hätte. Ich mußte lächeln. Sie hätte getötet werden können. Zumindest hätte sie erfahren, wie eine Peitsche die Unzufriedenheit des Mannes zum Ausdruck bringen kann, und zwar in aller Deutlichkeit.

Es war aber unwahrscheinlich, daß sie oder Seremides diese Möglichkeit gefürchtet hatten. So war sie der Verräterclique, in der sie sicherlich einen hohen Rang einnahm, viel nützlicher, von den Cosianern ganz zu schweigen, die sie lieber auf dem Thron sahen statt nackt und in Ketten. Seremides und Myron hatten ihre Rollen gut gespielt.

Während ich über diese Dinge nachdachte, kamen ein paar Arbeiter und begannen damit, die Plattform abzureißen. Sie hatte ihren Zweck erfüllt. Mittlerweile waren auch die Alarmstäbe des Zentralzylinders verstummt. Ich sah wieder zur Plattform hinüber. Dort oben hatte Talena von Ar barfuß gestanden. Ich ging davon aus, daß sie sich dabei die Füße nicht verletzt hatte.

Phoebe kniete mit gesenktem Kopf neben Marcus.

»Es ist seltsam«, sagte ich. »Der Krieg zwischen Cos und Ar hat sein Ende gefunden.«