Ich sah zu, wie das nächste Brett der Plattform auf dem Stapel landete. Dabei dachte ich darüber nach, wie wohl Talena auf einer anderen Art von Plattform aussähe, einer Auktionsplattform, nackt und in Ketten, wo Männer um sie feilschten.
»Laß uns eine Unterkunft suchen«, schlug Marcus vor.
Ich nickte. »Gehen wir.«
8
»Ich hatte das Glück, für den Dienst auf der Mauer ausgewählt zu werden«, sagte der junge Mann zu seinem gleichaltrigen Freund.
»Ich habe mich freiwillig dafür gemeldet.«
»Das ist das mindeste, was wir tun können.«
»So wird Ar Größe erlangen.«
»Nicht alle Werte sind materieller Natur.«
»Mit solchen Taten demonstrieren wir in aller Deutlichkeit unsere Friedensliebe.«
Marcus sagte: »Ich bin müde.«
»Daran sind die Wagen schuld«, erwiderte ich.
In vielen goreanischen Städten sind die Straßen, vor allem die Nebenstraßen und Gassen, zu schmal für Wagen. Träger und Handkarren liefern die Dinge des täglichen Bedarfs ins Haus. Um verstopften Straßen und dem Lärm vorzubeugen – und auch aus Gründen der Ästhetik, die die Goreaner sehr ernst nehmen –, sind einige Straßen für jeglichen Wagenverkehr gesperrt, während er wiederum auf anderen zu bestimmten Zeiten erlaubt ist, gewöhnlich in der Nacht oder in aller Frühe. Lebensmittellieferungen vom Land, soweit sie nicht von den Bauern auf dem Rücken getragen werden, erfolgen stets nachts und in aller Frühe. Das gleiche gilt auch für Waren, die die Stadt verlassen.
Wir spazierten durch den Metellanischen Bezirk und bogen dann nach Osten auf die Straße von Turia ab. Phoebe ging dicht hinter Marcus.
Einige Ahn vor Tagesanbruch war ein Konvoi an unserer Unterkunft im Metellanischen Bezirk im insula von Torbon in der Straße des Demetrios vorbeigerattert. Unser Zimmer hatte keine Fenster, aber ich war auf den Flur gegangen und hatte den Schlagladen, der zur Straße hinausblickte, ein Stück aufgestoßen. Unten fuhren Wagen vorbei, die von Jungen mit Laternen geführt wurden. Es waren viele. Die Straße des Demetrios verfügte wie die meisten goreanischen Straßen über keine Bürgersteige; eine beidseitige sanfte Neigung führte zur Abwasserrinne in der Straßenmitte. Die Jungen mit den Laternen, deren sanfter Schein sich hier und dort auf den Wänden abzeichnete, dienten einem wichtigen Zweck. Ohne eine derartige Beleuchtung kann man nur zu leicht eine Abzweigung verpassen oder mit der Radachse eine Häuserwand rammen. Nach einiger Zeit hatte sich Marcus zu mir gesellt. Die Wagen waren mit Segeltuchplanen verhüllt, die man festgezurrt hatte. Es war nicht der erste Konvoi, den wir in den vergangenen Wochen gesehen hatten.
»Und was transportieren sie?« hatte Marcus gefragt.
»Wer weiß das schon?« hatte meine Erwiderung gelautet, woraufhin er lachte.
Natürlich wußten wir im Grunde, was dort transportiert wurde. Das war nicht schwer zu erraten. Gewöhnliche Güter verlassen nicht in solcher Anzahl die Stadt. Zwar ist es nicht ungewöhnlich, daß derartige Transporter an Treffpunkten in Nähe der Stadttore zusammenkommen, Wagen verschiedenster Manufakturen und Handelshäuser, um dann als Konvoi zu reisen, aber in einem solchen Fall kommen die Wagen von verschiedenen Orten und bilden erst in der Nähe des Tors einen Konvoi, manchmal sogar erst außerhalb der Stadt, um die Straßen nicht zu blockieren. Für gewöhnlich wird die Zusammenstellung solcher Konvois auf den Anschlagtafeln verkündet, da diese Information für viele Leute wichtig ist, seien es Kaufleute, die ihre Waren verschicken wollen, Spediteure und Wächter, die Arbeit suchen, oder Menschen, die eine Passage buchen wollen. Reiche Kaufleute stellen auch selbst Konvois zusammen, gestatten aber, daß sich andere Wagen ihnen anschließen. In der Menge liegt Sicherheit, und je größer die Menge, desto größer die Sicherheit. Wagen, die sich einem Konvoi anschließen, müssen eine Gebühr entrichten, die hauptsächlich der Bezahlung der Wächter dient. Oder für anfallende Zölle, Trinkwasser, Tierfutter. Es gibt Unternehmer, die mit der Organisation und Ausstattung von Konvois ihren Lebensunterhalt verdienen.
Aber die Wagen, die unten auf der Straße vorbeifuhren, gehörten zu einer anderen Art von Konvoi.
Zum Beispiel hatte man den Konvoi nicht angekündigt. Vermutlich wußten viele Bürger nichts davon. Ein weiterer Hinweis war, daß die Wagen zusammengewürfelt wirkten. Es gab alle möglichen Modelle, sogar Ausflugswagen, die nur wenig Ähnlichkeit mit den stabiler gebauten Transportern hatten, die für den Überlandverkehr konstruiert waren, wo die Straßen kaum mehr als kaum ausgebaute, zufällige, steile, zerklüftete und trügerische Pfade darstellten. Einige goreanische Stadtstaaten isolieren sich – vermutlich aus militärischen Erwägungen –, indem sie sich weigern, Gelder für gute Straßen zur Verfügung zu stellen. Im Frühling ist es dann wegen der Regenfälle fast unmöglich, eine solche Stadt überhaupt zu erreichen. Besnit ist eine solche Stadt.
Viele Wagen trugen keinerlei Markierungen, aber es gab unter ihnen auch solche, die der Welt ihre Besitzer verkündeten und für Weber, Bäcker, Handwerker oder Kerzenmacher warben; man hatte sie requiriert. Einen letzten Hinweis bot die Tatsache, daß diese Konvois zuviel Personal mit sich führten, insbesondere für die Stadt. Anstelle eines Fahrers und eines zusätzlichen Mannes, der als Beifahrer oder Ladehelfer diente, sowie eines Jungen, der innerhalb der Stadt durch die Dunkelheit führte, saßen auf jedem Wagen mindestens vier oder fünf ausgewachsene, bewaffnete Burschen, von denen für gewöhnlich zwei oder drei auf dem Kutschbock hockten, während die übrigen auf der Ladung oder dem Segeltuch saßen oder auf den Trittbrettern unterhalb der Hinterluke standen. Außerdem gingen ein paar an den Seiten nebenher.
»Ar blutet«, hatte Marcus gesagt.
Jetzt ging er hinter mir und fragte: »Wohin gehen wir?«
»Ich will sehen, was auf der Stadtmauer passiert«, erwiderte ich.
»Das gleiche wie beim letzten Mal.«
»Ich will sehen, welche Fortschritte sie machen.«
»Du willst doch bloß den Flötenmädchen zusehen.«
»Das auch«, gab ich zu.
Ein paar Ehn später hatten wir die Straße von Turia erreicht, eine der Hauptstraßen Ars. Sie wird von Turbäumen gesäumt.
»Welch schöne Straße!« rief Phoebe aus. Der Anblick, vor allem wenn er einen unerwartet trifft, ist eindrucksvoll.
Marcus drehte sich ruckartig um und starrte sie an. Sie blieb wie angewurzelt stehen.
»Trägst du einen Kragen?«
»Ja, Herr.«
»Bist du eine Sklavin?«
»Ja, Herr.«
»Glaubst du, nur weil ich dich am Tag von Cos’ Sieg nicht getötet habe, bin ich schwach?«
»Nein, Herr.«
»Vielleicht denkst du dann das nächste Mal nach, bevor du unaufgefordert sprichst!«
»Ja, Herr.«
Wir gingen weiter.
»Ist dir das Haar des jungen Burschen aufgefallen, an dem wir eben vorbeigingen?« fragte ich.
»Ja. Es war wie Myrons Haar geschnitten.«
»Genau.«
»Da sind die Anschlagtafeln.«
»Gibt es etwas Neues?« Ich zog es vor, daß Marcus die Bekanntmachungen entzifferte. Er konnte flüssig lesen.
»Eigentlich nicht«, sagte Marcus. »Das Übliche, Verlautbarungen von Beamten, Beschwörungen der Aufrichtigkeit sowohl von Cos wie von Ar, Erklärungen prominenter Bürger, wie sehr sie sich der unter Gnieus Lelius erfolgten Verbrechen Ars schämen.«
»Ich verstehe.« Seit dem Einzug Myrons in die Stadt und dem sich daraus ergebenden Triumph Lurius’ von Jad, der einen Tag später in seinem Namen von dem Polemarkos unter Teilnahme von Seremides und Talena gefeiert worden war, waren etwa zwei Monate vergangen; dem folgte vor einigen Wochen die Thronbesteigung Talenas. Ihre Krönung zur Ubara mochte etwas weniger spektakulär als Myrons Einzug oder Lurius’ Triumph gewesen sein, was ihr möglicherweise gar nicht gefallen hatte, aber ich hatte sie durchaus eindrucksvoll gefunden. Myron hatte ihr die Krone aus Turblättern aufgesetzt, allerdings im Namen des Volkes und des Rates von Ar. Seremides und die meisten Angehörigen des Hohen Rates waren ebenfalls anwesend gewesen. Lediglich gewisse Ratsmitglieder waren angeblich verhindert. Gerüchten zufolge standen sie unter Hausarrest.