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Man hatte Talena ein Medaillon von Ar umgehängt, aber das traditionelle Medaillon, das Marlenus getragen und selten aus der Hand gegeben und vermutlich bei seinem Aufbruch aus der Stadt vor so langer Zeit mitgenommen hatte, blieb unauffindbar. Das gleiche galt für den Ring des Ubars, der allerdings sowieso viel zu groß für Talenas Finger gewesen wäre. Angeblich war der Ring schon vor Jahren aus Ar verschwunden. Es hatte sogar schon vor Marlenus’ Verschwinden das Gerücht gegeben, er sei bei einem Jagdausflug in den Nordwäldern verlorengegangen.

Nach dem Medaillon überreichte man Talena den Heimstein von Ar, den sie in der linken Hand halten mußte, während ihr das Zepter, das Symbol ihres Amtes und der Macht, in die rechte gelegt wurde. Der Krönung folgte die Verkündung, daß man fünf Feiertage anberaume. Bei Lurius’ Triumph hatte es zehn Tage gegeben. Die Hauptberater der neuen Ubara waren Myron von Cos und Seremides, ehemals aus Tyros.

»Hier steht etwas«, sagte Marcus, »auch wenn ich es nicht für wichtig halte.«

»Was denn?«

»Dort ist ein Aufruf an alle Bürger und Stadträte Ars, demnach sie sich Gedanken darüber machen sollen, wie sie für ihre Komplizenschaft bei den Verbrechen ihrer Stadt Schadenersatz leisten können.«

»Reparationen?«

»Keine Ahnung.«

»Ich hätte gedacht, daß Ar schon beträchtlichen Schadenersatz geleistet hat.« Ich mußte sofort an die Konvois denken, die unter unserem Fenster vorbeigerattert waren.

»Sei vorsichtig mit deinen Reden«, murmelte ein Obsthändler, der neben mir stand.

»Wir sind schuldig«, sagte ein anderer Bürger.

»Genau.«

»Es ist nur richtig, daß wir bei unseren guten Freunden aus Cos und anderen, denen wir geschadet haben, Wiedergutmachung leisten.«

»Das ist wahr.«

Marcus und ich gingen weiter.

»Ar-Stations Heimstein wird nicht länger öffentlich zur Schau gestellt«, sagte Marcus düster.

»Das werden sie schon wieder tun.«

»Wie kommst du darauf?« fragte er.

»Ich habe meine Gründe«, erwiderte ich. »Warte einfach ab.«

Wir kamen an einem öffentlichen Gebäude vorbei, einem Gerichtsgebäude. »Die Wände scheinen auffallend leer zu sein«, meinte Marcus. Die Häuserwand war von kleinen Löchern übersät.

»Sicher sind dir schon vergleichbare Wände aufgefallen«, sagte ich. »Schmückende Marmorreliefs wurden entfernt. Wenn ich mich recht entsinne, feierte man hier Hesius, einen legendären Helden Ars.«

Marcus nickte. »Nach ihm wurde der Monat Hesius benannt.«

»Ich glaube schon.« Hesius ist in Ar der zweite Monat. Er folgt der ersten Passage-Hand. Wie in den meisten Städten der nördlichen Hemisphäre beginnt auch in Ar das neue Jahr mit der Frühlingstagundnachtgleiche.

»War es ein gutes Relief?« fragte Marcus.

»Obwohl ich kaum qualifiziert bin, solche Dinge zu beurteilen, fand ich sie sehr gelungen. Es war die Arbeit eines alten Meisters, Aurobion, obwohl es auch die Ansicht gab, sie stammten nur aus seiner Schule.«

»Ich habe von ihm gehört.«

»Einige Leute vertreten die Meinung, daß der größte Teil der Hauptfiguren von seiner Hand stammt, während die unwichtigeren Teile und die Nebenfiguren die Arbeit seiner Schüler sind.«

»Warum sollte man die Kunstwerke entfernen?«

»Sie haben antiquarischen und ästhetischen Wert«, sagte ich. »Ich schätze, sie sind mittlerweile auf dem Weg in ein Museum auf Cos.«

»Die Reliefs auf der Straße des Zentralzylinders sowie die am Zentralzylinder und am Justizzylinder selbst sind noch vorhanden.«

»Zumindest im Augenblick noch.« Das Haus, an dem wir gerade vorbeigekommen waren, schien ein außerordentlich altes Haus zu sein. Viele Bürger waren sich nicht einmal sicher, in welchem Jahr es erbaut worden war. Möglicherweise stammte es aus dem Ersten Ubarat von Titus Honorius. Viele Behörden, die ursprünglich in seinem Innern untergebracht waren, waren schon vor langer Zeit in den neuen Justizzylinder verlegt worden, der in der Nähe des Zentralzylinders lag. Übrigens gab es in diesem Bezirk, der zu den ältesten Bezirken der Stadt gehörte, viele sehr alte Häuser. Das galt vor allem für die öffentlichen Gebäude. Viele kleinere Gebäude, Läden, insulae und dergleichen mehr waren vergleichsweise neu.

Wir gingen weiter auf der Straße der Geschirre in östlicher Richtung.

»Hat dir die Vorstellung im Großen Theater gestern abend eigentlich gefallen?« fragte ich Marcus.

»Aber sicher«, sagte Marcus. »Das war genau das Richtige, um einen langen Abend totzuschlagen, bevor man dann in der Morgendämmerung von einem Konvoi aus dem Schlaf gerissen wird.«

»Ich glaubte, es könnte dir gefallen.«

Das Stück hatte den Titel ›Die Ehre von Cos‹ getragen, und Milo, trotz seines Sklavenstatus der berühmteste Schauspieler der Stadt, hatte die Rolle des Lurius von Jad gespielt. Die überdachte Bühne des Großen Theaters, das allgemein so genannt wurde, obwohl es sich eigentlich um das Theater von Pentilicus Tallux handelte, einem Arer Dichter des vorigen Jahrhunderts, der am berühmtesten für seine Gedichte in der schwierigen Trilesianischen Form sowie zweier einfühlsamer Dramen war, hatte eine Länge von hundert und eine Tiefe von etwa zwanzig Metern. Diese Bühne bot sich für große Aufführungen wie Zirkusvorstellungen und Feste an, allerdings wurde meistens nur die Mitte genutzt. Sie konnte leicht tausend Schauspieler aufnehmen. Ihre stabile Bauweise ermöglichte den Auftritt von Tharlarion, anderen Tieren und Wagen, wie sie am vergangenen Abend in den nachgestellten Schlachten, in denen Lurius durch sein persönliches Eingreifen und unter großem persönlichen Risiko immer wieder das Ruder herumgerissen hatte, sowie dem Triumphaufmarsch am Ende des Stücks gebraucht wurden.

»Hat dir das Stück gefallen?« fragte ich Phoebe.

»Ja, Herr.«

»Ich glaube, ich hörte dich aufstöhnen, als Milo die Bühne betrat«, sagte Marcus.

»Er bietet in seinem Kostüm eine stattliche Erscheinung, Herr.«

»Zweifellos«, sagte Marcus.

»Mein Herr ist doch wohl nicht eifersüchtig?« fragte Phoebe entzückt.

»Nein«, knurrte er.

»Ich glaube, sie haben elf freie Frauen entweder ohnmächtig oder hilflos aus dem Theater getragen«, sagte ich.

Marcus schüttelte den Kopf. »Es waren nicht mehr als eine oder zwei.«

»Nein, elf«, sagte ich.

»Mein Herr ist tausendmal schöner als Milo«, sagte Phoebe.

»Anscheinend willst du unbedingt die Peitsche spüren«, sagte er.

»Nein, Herr!«

»Bin ich wirklich so anziehend?« fragte er.

»Für mich schon, Herr«, sagte sie.

»Hm.« Darüber mußte Marcus nachdenken. Er war schon ein gutaussehender junger Bursche. Wenn auch nicht ganz so gutaussehend wie ich.

»Dort vorn liegt die Straße der Mauer«, sagte Marcus. Es ist die längste Straße Ars. Sie folgt der Innenseite der Stadtmauer. Das ist nicht nur für die Einwohner bequem, sondern versetzt Truppen in die Lage, schnell von einem Verteidigungspunkt zum anderen verlegt zu werden.

Ich hörte Flötenspiel.

»Halt!« befahl eine Stimme.

Marcus und ich blieben stehen; Phoebe kniete neben ihrem Herrn nieder.

»Ihr seid bewaffnet!« Der Mann trug die Uniform eines Arers, aber sein Akzent war eindeutig cosisch. Es gab noch einheimische Stadtwächter, aber ihre Zahl war stark verringert worden, und man wies ihnen Aufgaben von niedriger Verantwortung zu. Und selbst dann standen sie unter dem Befehl cosischer Offiziere. Cosianer in arische Uniformen zu stecken erweckte den Eindruck, daß sie in gewissem Sinn so etwas wie einheimische Stadtwächter waren. Vielleicht fanden die Bürger dies ja irgendwie beruhigend oder zumindest weniger anstößig, als wenn die Männer wie Angehörige einer fremden Besatzungsarmee erschienen, die für alle sichtbar cosische Uniformen trugen. Natürlich konnte man nicht abstreiten, daß sich eine große Zahl regulärer Soldaten aus Cos in der Stadt aufhielt. Ganz zu schweigen von den Söldnern, die an ihren Armbinden und Schals zu erkennen waren. Myron hatte klugerweise die Zahl der Söldner beschränkt, die die Stadt zur gleichen Zeit betreten durften. Trotzdem war es zu einigen Zwischenfällen gekommen, wie zum Beispiel Sachbeschädigungen in einigen Tavernen und Vandalismus in Bädern und Büchereien. Außerdem waren ein paar Läden geplündert worden, auch wenn davon nichts auf den Anschlagtafeln zu lesen gewesen war. Die Streitkräfte Ars waren aufgelöst worden, und zwar vollständig. Man hatte nicht einmal die Grenzpatrouillen behalten. Tiere und Ausrüstung waren von Cos übernommen worden. Die meisten der dort Beschäftigten hatten die Stadt verlassen. Ich wußte nicht, was aus ihnen geworden war. Zweifellos würden sie Arbeit suchen und einige garantiert zu Straßenräubern werden.