»Obwohl ich Ar hasse«, sagte Marcus, »erfüllt mich dieser Anblick mit Trauer.«
»Du haßt nicht Ar, sondern diejenigen, die Ar und Ar-Station verraten haben.«
»Ich verabscheue Ar und seine Bürger.«
»Wie du meinst.«
Wir sahen der Arbeit weiter zu.
Hier und dort gab es in Seide gekleidete Flötenspielerinnen, die manchmal mit untergeschlagenen Beinen ober- oder auch unterhalb der Arbeiter auf flachen Steinen saßen oder zwischen ihnen umherstreiften. Einige von ihnen standen auch unten auf der Straße.
»Die Flötenspielerinnen scheinen recht hübsch zu sein«, meinte Marcus.
»Sieht so aus.« Wir standen ein ziemlich Stück weit von ihnen entfernt.
»Das ist wohl einer von Lurius’ Witzen, daß die Mauern von Ar mit Flötenspiel niedergerissen werden.«
»Der Meinung bin ich auch«, sagte ich.
»Welch unglaubliche Beleidigung.«
»Ja.«
»Dir ist sicher nicht entgangen, daß viele der Mädchen dort mit untergeschlagenen Beinen sitzen.«
»Nein«, sagte ich.
»Man sollte sie auspeitschen.«
Ich nickte nur. Auf Gor sitzen nur Männer mit untergeschlagenen Beinen, niemals Frauen. Die goreanische Frau kniet, ob frei oder versklavt, ob von hoher oder niedriger Kaste. Eine derartige Pose von Seiten einer Frau, mit der sie den Mann nachäfft, ist eine ungeheuerliche Provokation. Daß mehrere der Flötenmädchen mit untergeschlagenen Beinen dort saßen, war zweifellos eine weitere Beleidigung der Bürger Ars.
»Warum bestrafen die Männer sie nicht?« fragte Marcus.
»Keine Ahnung.«
»Vielleicht trauen sie sich nicht.«
»Ich glaube eher, es hat etwas mit den neuen Einsichten zu tun.«
»Was willst du damit sagen?«
»Offiziell soll das Spiel der Flötenmädchen die Arbeit angenehmer machen.«
Marcus schnaubte. »Wer glaubt denn so etwas?«
»Viele tun jedenfalls so oder haben es sogar geschafft, sich selbst davon zu überzeugen.«
»Und was ist mit der Provokation?« fragte Marcus. »Diese Beleidigung versteht doch wohl jeder.«
»Angeblich ist die Zeit der Freiheit angebrochen«, sagte ich. »Warum also sollte ein anständiger Bürger Ars etwas dagegen haben, wenn ein Flötenmädchen so dasitzt? Ist nicht jedem alles erlaubt?«
»Nein«, sagte Marcus. »Freiheit ist etwas für die Freien. Die anderen muß man auf ihrem Platz halten, und zwar auf angemessene Weise. Eine Gesellschaft ist auf Ordnung und die Teilung der Macht angewiesen, jedes Element stabilisiert sie in harmonischer Beziehung mit allen anderen.«
»Du glaubst also nicht, daß jedermann gleich ist oder es zumindest sein sollte, trotz aller gegenteiliger Beweise, und daß eine Gesellschaft am besten in der Form eines ständigen, ungeordneten Konflikts gedeiht?«
Marcus starrte mich ungläubig an.
»Nein«, sagte ich, »ich sehe, daß du das nicht glaubst.«
»Glaubst du das denn?«
»Nein«, antwortete ich. »Nicht mehr.«
Wir wandten unsere Aufmerksamkeit wieder der Mauer zu.
»Sie arbeiten fröhlich und entschlossen«, sagte Marcus angewidert.
»Angeblich sind sogar Mitglieder des Hohen Rates als Geste zur Mauer gekommen, haben einen Stein herausgelöst und ihn in die Tiefe geworfen.«
»So demonstrieren sie ihre Treue dem Staat gegenüber.«
Ich nickte.
»Dem Staat von Cos«, sagte er erbost.
»Andererseits arbeiten viele junge Leute aus hohen Kasten Seite an Seite mit Angehörigen niedriger Kasten.«
»Hat man sie einberufen?« fragte Marcus.
»Nicht die höheren Kasten.«
»Sie haben sich freiwillig gemeldet?«
»Wie viele der anderen auch.«
»Das ist unglaublich.«
»Die Jugend ist idealistisch«, gab ich zu bedenken. ›
»Idealistisch?«
»Ja«, sagte ich. »Man sagt ihnen, dies sei eine rechtschaffene und edle Arbeit, eine Möglichkeit zur Wiedergutmachung, um für die Fehler ihrer Stadt zu büßen, daß es im Sinne des Friedens und der Brüderlichkeit geschehe.«
»Sich den Klingen von Fremden preiszugeben?«
»Vielleicht wird Cos sie beschützen«, sagte ich.
»Und wer beschützt sie vor Cos?«
»Wer braucht schon Schutz vor seinen Freunden?«
»Sie haben Ar-Station nicht miterlebt«, sagte er. »Sie haben das Delta nicht miterlebt.«
»Diejenigen, die nur wenig von der Welt gesehen haben, sind stets am empfänglichsten für Idealismus.«
»Sie sind Narren«, sagte Marcus.
»Nicht alle jungen Männer sind Narren.«
Er sah mich an.
»Du bist selbst noch sehr jung.«
»Jeder, der nicht begreift, welch ein Wahnsinn es ist, seinen Schutz niederzureißen, ist ein Narr«, sagte Marcus. »Und es ist einerlei, ob es ein junger oder ein alter Narr ist.«
»Manch einer ist eben bereit, etwas derartiges als Beweis seines guten Willens oder seiner Ehrlichkeit zu tun«, sagte ich.
»Unglaublich.«
Ich hob die Hand. »Sieh mal da, die Kinder.« Am Fuß der Bresche spielten ein paar Kinder. Sie hatten einen kleinen Steinhügel aufgeschichtet und stießen ihn nun hinunter.
Vier Männer rollten einen schweren Stein zur Außenseite. Ein Flötenmädchen parodierte oder begleitete ihre Bemühungen auf der Flöte, das Instrument schien sich mit ihnen anzustrengen, und als sie den Stein in die Tiefe stießen, spielte sie eine schrille, absteigende Tonfolge, wirbelte herum und tanzte davon. Die Männer lachten.
»Ich habe genug gesehen«, sagte Marcus angeekelt. »Laß uns gehen.«
9
Talena, die Ubara von Ar, sagte: »Sie ist auserwählt.«
Die Frau stieß einen klagenden Schrei aus.
Aus der Menge, die sich um die auf dem Platz des Tarns errichtete Plattform versammelt hatte, ertönten Jubel und Applaus.
Der Wächter, der die Frau nun am Oberarm hielt, führte sie zu der Stelle, neben der eine ziemlich schmale zusätzliche Rampe angebracht war; dort mußte sie niederknien und wurde in Ketten gelegt. Die kleine Rampe führte auf der linken Seite der Plattform nach unten. Ich stand direkt an ihrem Fuß.
Talena saß umgeben von Dienern, Beratern, Wächtern und Schreibern auf einem Podest. Auf der anderen Seite der Plattform gab es eine zweite Rampe, auf der die in Büßergewänder gekleideten Frauen barfuß nach oben gingen.
Die Handschellen schlössen sich um die Gelenke der knienden Frau. Man hörte deutlich das entschiedene Zuschnappen der Eisenreifen, zuerst der eine, dann der andere. Die Frau hob sie und starrte sie ungläubig an.
»Hast du noch niemals eine Kette getragen?« rief ein Mann.
Die Frau schluchzte plötzlich auf und versuchte mit aller Gewalt, das Eisen über das Handgelenk zu schieben. Dann hob sie es erneut in die Höhe und starrte es wieder ungläubig an.
»Ja, das sind deine Ketten«, lachte ein Zuschauer. »Die kannst du nicht abstreifen.«
»Die sind nicht dazu gemacht, daß sie deinesgleichen wieder abnimmt!« rief ein anderer Mann.
Lautes Gelächter ertönte.
Die Frau schluchzte.
»Hör auf zu heulen, Frau!« rief der Zuschauer. »Du solltest dich freuen, daß du für wert befunden wurdest, durch diese Auswahl geehrt zu werden.«
Die Frau wurde von einem Hilfswächter, der eine Armbinde als Zeichen seines Amtes trug, die Rampe hinuntergeführt, während der erste Wächter, der eine Uniform trug, zur Gruppe zurückkehrte. Unten angelangt, mußte sie vor mir niederknien.
»Handgelenke«, sagte ich. Sie hob die zusammengeketteten Hände. Ich zog sie an der sich dazwischen spannenden Verbindungskette näher zu mir heran und hakte sie mit dem Bolzen des vorhängeschloßähnlichen Verbindungsrings in ein Glied der, Zugkette ein. Er würde sie an einer bestimmten Stelle der Kette halten. Ich ließ den Verschluß des Verbindungsrings zuschnappen. Sie blickte zu mir hoch, nun mit der Sklavinnenkette verbunden.
»Auf die Füße, beweg dich«, sagte einer der Hilfswächter.
Sie stand auf und ging zu der ersten Linie, die in die Steinplatten des Platzes eingeritzt worden war. Es gab einhundert solcher Linien, von denen jede etwa anderthalb Meter von der anderen entfernt war. Sie zeigten den Frauen, wo sie sich aufzustellen hatten. Als die neue Gefangene vortrat, rückten auch ihre Vorgängerinnen ein Stück auf. Jenseits der hundert Plätze beschrieb die Sklavinnenkette eine Kurve und führte wieder zurück, wo sie dann erneut eine Kehrtwende beschrieb und wieder nach vorn führte; auf diese Weise blieben alle Gefangenen zusammen, mehrere Reihen, die in verschiedene Richtungen sahen und alle in der Nähe der Plattform blieben.