»Es ärgert mich, daß sich diese Frauen beschweren«, sagte ein Mann. »Es ist doch nun wirklich keine schwere Pflicht, die man ihnen abverlangt. Betrachtet man einmal die Schuld, die Ar auf sich geladen hat, seine Mittäterschaft bei Gnieus Lelius’ teuflischen Plänen, ist es für eine weibliche Bürgerin eine ehrenvolle Tat, sich für die Reparationszahlung anzubieten.«
»Es werden sowieso schon viel zu wenige auserwählt«, warf der Mann ein.
»Ganz genau«, bestätigte ein anderer Bürger, ein Kaufmann. »Sollen denn nur wir Männer die ganze Last tragen? Was ist mit dem Arbeitsdienst?«
»Und den Steuern und den zusätzlichen Veranschlagungen?« ergänzte der erste Sprecher.
»Sie sind Bürgerinnen Ars«, sagte der Kaufmann. »Es ist nur gerecht, daß auch sie den Preis für unsere Untaten zahlen.«
»Und ihre Untertanen.«
»Eben. Sie haben Ratsmitglieder und die Wahlmänner unterstützt, die die Ratsmitglieder wählen«, erklärte der Kaufmann.
»Seht euch doch nur die edle Talena an«, sagte ein Tagelöhner. »Wie tapfer sie ihre Pflicht erfüllt.«
Der Kaufmann nickte. »Wie schwer muß ihr das fallen.«
»Man sollte nicht vergessen, daß auch sie in aller Öffentlichkeit barfuß im Büßergewand aufgetreten ist, bereit, sich selbst anzubieten, um Ar zu retten.«
Hilfswächter tragen keinen Helm. Ich hatte darum meinen Kopf und den unteren Teil des Gesichts in der Art der Männer der Tahari mit einem Tuch verhüllt. Das paßte gut zu der kunterbunten Kleidung der anderen Hilfswächter, die außer der Tatsache, daß sie nicht aus Ar kamen, im allgemeinen nur wenig gemein hatten. Die regulären Wächter standen wie bereits erwähnt unter dem Kommando von Cosianern, oft handelte es sich auch um Cosianer in Arer Uniformen. Cos hatte viele Söldner aus seinen Diensten entlassen oder sie zu den Einheiten der Hilfswächter verlegt. Den Großteil aller heiklen Tätigkeiten, Aufgaben, die möglicherweise Groll hervorriefen, unter Umständen sogar Widerstand erregten, überließ man den Hilfswächtern. Falls nötig, konnte man sich von ihren Handlungen distanzieren oder einige ihrer Einheiten als öffentliche Geste der Beschwichtigung auflösen. Schließlich sind solche Einheiten immer schwer zu kontrollieren.
In dieser Vorgehensweise sah ich einen weiteren Beweis dafür, daß Myron oder seine Berater sich an den Prinzipien und Praktiken Dietrichs von Tarnburg orientierten. Ein ähnliches Manöver, das Dietrich jedoch niemals anwandte – jedenfalls nicht meines Wissens nach –, besteht darin, solche Streitkräfte aus dem Abschaum der betreffenden Stadt zu rekrutieren, sich ihre Abneigung und ihren Haß auf die erfolgreicheren Teile der Bürgerschaft zunutze zu machen, um eine eitle, mißtrauische und gnadenlose Truppe zu schaffen. Diese Truppe kann man später wieder zur Freude der anderen Bürger auflösen oder sogar vernichten, die dann ihre Eroberer als ihre Beschützer ansehen werden, ohne zu begreifen, daß die weniger Glücklichen ihrer Gemeinschaft zuerst benutzt und dann geopfert wurden.
»Nein«, sagte Talena. »Die nicht.«
Oben auf der Plattform vor dem Podest legte ein Wächter der Frau, die vor Talena stand, das Büßergewand wieder um die Schultern. Er tat es voller Ehrerbietung. Die Frau zitterte. Ein anderer Wächter führte sie schnell zum hinteren Teil der Plattform und dort die breite Rampe hinunter. Sie würde nach Hause zurückkehren.
»Talena, nein!« rief ein Mann aus der Menge.
Talena drehte hoheitsvoll den Kopf in seine Richtung.
»Sei still«, zischte ihm sein Nachbar zu.
»Heil Talena!« rief ein Mann, der unmittelbar hinter ihm stand. Sofort stimmten andere in den Ruf ein.
Die Ubara wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihren Pflichten zu. Auf eine Geste hin führte ein Wächter die nächste Frau in einem weißen Gewand heran; sie ließ die lange Reihe hinter sich, die sich über die Plattform und die kleine Seitenrampe hinunter bis zur anderen Platzseite erstreckte, wo sie dann in der Straße des Tores verschwand. Von meinem Standpunkt aus konnte ich ihr Ende nicht sehen.
»Lady Tuta Thassolonia«, las ein Schriftgelehrter vor.
Lady Tuta ließ ihr Gewand von den Schultern gleiten und stellte sich vor ihre Ubara. Dann kniete sie nieder.
Männer stöhnten auf.
Sie ließ sich auf die Fersen sinken, spreizte die Beine, drückte das Kreuz durch, nahm das Kinn hoch und legte die Handflächen auf die Oberschenkel.
»Es sieht so aus, als seist du eine Sklavin«, sagte Talena.
»Ich bin schon immer eine Sklavin gewesen, Herrin«, sagte Lady Tuta.
Talena wandte sich an einen ihrer Ratgeber, und sie sprachen leise miteinander.
»Mein Kind, bist du eine legale Sklavin?« fragte einer der Ratgeber, ein Rechtsgelehrter.
»Nein, Herr.«
»Dann bist du legal gesehen eine freie Frau?«
»Ja, Herr.«
»Dann hat ja alles seine Ordnung«, sagte der Rechtsgelehrte zu Talena.
»Du gehörst zu den Auserwählten«, sagte die Ubara großmütig.
»Danke, Herrin«, sagte die Frau.
Die Menge begrüßte die Entscheidung der Ubara mit Jubel. Ein anderer der Berater, der Kleidung nach ein Cosianer, wandte sich an Talena und sprach zu ihr, wobei er den Mund mit der Hand bedeckte. Talena nickte, und er wandte sich an die Frau auf den Knien.
»Steh auf«, sagte er freundlich, »und sprich uns nicht als Herr und Herrin an.«
Tuta stand auf.
»Möchtest du, bevor du dich zu deinen Schwestern dort unten in der Kette gesellst, uns als freie Frau etwas sagen?«
»Heil, Talena!« rief sie. »Ruhm und Ehre für Talena!«
Der Ruf wurde von Hunderten Kehlen aufgenommen. Dann nahm man Tuta beiseite, um ihr die Handschellen anzulegen und sie zu den anderen zu bringen.
Ich reihte sie in die Sklavinnenkette ein, genau wie die nächste und die übernächste Frau.
»Sie nicht«, sagte Talena zu der Frau, die vor ihr entblößt wurde. Wie bereits erwähnt standen mehrere Schriftgelehrte auf dem Podest. Listen wurden geführt und eingesehen. Auf einer Liste standen die Namen der Frauen in der Reihenfolge, in der sie die Plattform betraten. Von dieser Liste verkündete der Schriftgelehrte die Namen. Auf einer weiteren Liste wurden Talena s Urteile niedergeschrieben. Die wichtigsten Listen schienen jedoch die zu sein, die man stets zu Rate zog, während die diversen Namen aufgerufen wurden. Es gab mindestens fünf solcher Listen. Drei davon sind es wert, erwähnt zu werden. Eine hielt ein Mitglied des Hohen Rates in der Hand. Eine weitere hielt ein cosischer Berater. Die letzte war im Besitz von einem von Talenas Dienern, der neben ihr stand.
Plötzlich kam es in der Nähe der hinteren Rampe zu einem Handgemenge; ein Wächter packte eine Frau, die sich plötzlich umgedreht und zu fliehen versucht hatte.
»Bringt sie her!« befahl Talena.
Der Wächter, der die Frau von hinten an den Oberarmen hielt, hob sie einfach hoch und trug sie zum Podest. Die zierlichen nackten Füße der Frau schwebten zehn Zentimeter über dem Holzboden.
»Zieh sie aus!« befahl Talena.
Der Wächter gehorchte, und die Frau wurde vor der Ubara von Ar auf die Knie gestoßen.
»Gnade, meine Ubara!« rief die Frau und streckte Talena die gefalteten Hände entgegen.
»Wie heißt du, Kind?«
»Fulvia!« schluchzte die Frau. »Fulvia, eine Lady aus Ar!«
»Wir sind alle Ladies aus Ar«, sagte Talena sanft.
»Gnade, Ubara!« schluchzte Fulvia und hob die Hände. »Verschone uns! Verschone deine Schwestern aus Ar!«
»Aber mein Kind!« rief Talena. »Wir sind alle schuldig. Wir alle sind in die Untaten des berüchtigten Gnieus Lelius verstrickt. Warum haben wir uns ihm nicht entschieden entgegengestellt? Warum haben wir seine abscheulichen Pläne in die Tat umgesetzt?«