»Auch wenn ich für solche Spiele nichts übrig habe, heißt das nicht, daß ich sie nicht spielen kann.«
»Wie viele Mann sind in der Deltabrigade?« fragte ich.
Er grinste. »Zwei«, sagte er. »Wir sind die Deltabrigade.«
»Nein«, erwiderte ich. »Es gibt noch mehr.«
Er blickte mich überrascht an.
»Heute morgen fand man vier Soldaten, zweifellos Cosianer, ermordet in der Nähe der Straße von Turia auf. Man fand auch das Delka.«
Marcus schwieg.
»Wir haben Verbündete«, sagte ich. »Darüber hinaus habe ich erfahren, daß das Delka auch an anderer Stelle erschienen ist, anscheinend hauptsächlich in den ärmeren Stadtvierteln.«
»Ich mag keine unbekannten Verbündeten«, sagte er.
»Wenigstens können sie uns unter der Folter nicht verraten, genausowenig wie wir sie«, meinte ich.
»Soll ich mich deshalb besser fühlen?«
»Warum nicht?«
»Wir können keinen Einfluß auf sie nehmen.«
»Sie auch nicht auf uns.«
»Wir haben damit angefangen«, sagte der junge Krieger nachdenklich. »Aber ich weiß nicht, wo es enden wird.«
»Cos wird gezwungen, die Krallen auszufahren.«
»Und dann?« fragte er.
»Und dann wissen wir nicht, wo es enden wird.«
»Was ist mit dem Heimstein von Ar-Station?«
»Ist das deine einzige Sorge?«
Er spuckte aus. »Soweit es mich betrifft, können sie das verräterische Ar bis auf die Grundmauern niederbrennen.«
»Sie werden ihn wieder öffentlich ausstellen.«
»Ist das ein Teil deiner Partie Kaissa?«
Ich nickte.
»Du planst weit voraus.«
»Nein«, sagte ich. »Das ist ein erzwungener Zug. Ar wird keine andere Wahl bleiben.«
»Und wenn sie den Heimstein öffentlich zur Schau stellen? Was dann?«
»Ich kenne einen Burschen, der ihn für dich besorgen wird.«
»Einen Zauberer?«
Ich lächelte.
»Die Deltabrigade, du und ich?«
»Ich glaube, da gibt es noch mehr.«
»Genug, um den Zentralzylinder zu erobern?«
»Mit Sicherheit jetzt noch nicht.«
Marcus betrachtet das Delka, das in die Häuserwand eingeritzt worden war.
»Ich habe Angst«, sagte er dann.
»Ich auch«, erwiderte ich.
12
»Da ist noch ein Delka«, sagte ich zu Marcus.
»Ganz schön unverschämt, es an einem solchen Platz anzubringen«, erwiderte er.
Marcus und ich spazierten die Straße des Zentralzylinders entlang, die im gewissen Sinne die Hauptstraße Ars ist. Auf jeden Fall ist es seine berühmteste, wenn nicht sogar belebteste Straße; sie führt zum Park des Zentralzylinders, in dem sich das Bauwerk befindet, das ihr den Namen verlieh. Es ist eine lange, im Schatten liegende, breite, elegante Straße, mit teuren Geschäften und Springbrunnen.
Seit dem Vorfall im Laden des Geschirrverkäufers waren einige Tage vergangen.
»Gestern nacht hat man eine Soldatenunterkunft niedergebrannt«, sagte Marcus. »Das habe ich gehört.«
»Falls es stimmt«, entgegnete ich. »Ich glaube nicht, daß davon etwas auf den Anschlagtafeln zu lesen sein wird.«
»Hast du nicht auch den Eindruck, daß in der Stadt ein neuer Geist herrscht?« fragte er mich.
»Mir kommt alles sehr ruhig vor.«
»Trotzdem. Die Dinge haben sich verändert.«
»Schon möglich.«
»Da, hör doch!«
Wir drehten uns um. Eine Gruppe Jugendlicher marschierte in geordneten Reihen vorbei und sang ein Lied. Anscheinend handelte es sich um eine Gruppe Sportler. Sie trugen sowohl die Farben Ars wie auch die Cos’. Solche Gruppen, die in den einzelnen Stadtteilen aufgestellt werden, messen sich in den unterschiedlichsten Disziplinen, im Steinwurf, im Speerwurf – sowohl in bezug auf Weite als auch auf Zielgenauigkeit – und in allen möglichen Arten von Wettläu fen. Es finden Treffen und örtliche Ausscheidungskämpfe statt, bei denen der Beste ermittelt wird und dann einen Preis erhält. Diese Wettkämpfe waren den Goreanern vertraut und wurden schon seit Jahren in den verschiedenen palestrae der Stadt privat veranstaltet. Manchmal traten auch die palestrae gegeneinander an.
»Das ist anders«, sagte Marcus.
»Solche Sportgruppen hat es doch schon immer gegeben«, entgegnete ich.
»Man hat sie Wiederaufleben lassen«, sagte Marcus.
»Sieht du darin etwas Bedeutsames?«
»Natürlich«, erwiderte er sofort. »Warum sollte Cos solche Veranstaltungen fördern?«
»Um sie beim Herrschen zu unterstützen?« mutmaßte ich. »Um edel und gütig erscheinen zu lassen? Um der Öffentlichkeit ein hübsches Spielzeug zu geben, interessante Dinge, mit denen sie sich die Zeit vertreiben kann? Um Ar von seiner Niederlage und seinem traurigen Zustand abzulenken?«
»Aber das haben die Cosianer bis jetzt doch nicht getan«, sagte er. »Warum gerade jetzt?«
Wir sahen zu, wie die Jugendlichen an uns vorbeimarschierten.
Ich tat Marcus den Gefallen. »Also warum?« fragte ich.
»Um der Deltabrigade entgegenzutreten«, sagte er. »Um ihren Einfluß zu beschneiden!«
»Cos weiß doch nicht einmal, daß es uns gibt.«
»Die Ubara weiß Bescheid«, sagte er. »Seremides und der Polemarkos auch.«
»Du spinnst.«
»Diesmal ist mein Kaissaspiel geschickter als das deine.«
»Das würde ich gern glauben«, sagte ich.
»Und das Kunstzentrum?« gab Marcus zu bedenken.
»Was ist damit?«
»Genau das gleiche!«
Ich lachte.
»Nein, ich meine es ernst!« beharrte er. »Es ist genau das gleiche, nur eben für die Intellektuellen, die Schriftgelehrten, die hohen Kasten.«
»Werden sie dafür den gestohlenen Marmor aus Cos zurückholen?« fragte ich spöttisch.
»Ich meine es ernst, Tarl!«
»Vielleicht hast du ja recht«, sagte ich. »Ich hoffe es jedenfalls.«
»Ich sage dir, die Dinge in Ar verändern sich.«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Es hat den Anschein, als wären die Erleuchteten nun nicht mehr so willkommen in den Straßen wie zuvor«, sagte der junge Krieger. »Die Männer gehen ihnen aus dem Weg. Sogar manche Frauen gehen ihnen aus dem Weg. Einige haben sogar verlangt, daß sie in ihren Tempeln bleiben sollen, wo sie hingehören, daß sie sich von den anständigen Leuten fernhalten.«
»Das ist interessant.«
»Nun läuten sie ihre Glocken und schwingen ihre Weihrauchbehälter in verlassenen Straßen«, sagte Marcus. »Sie singen mit ihren Litaneien nur noch Wände an.«
»So schlimm wird es ja wohl noch nicht sein«, erwiderte ich.
»Ist dir so viel an dieser unproduktiven, parasitären Kaste gelegen?« fragte er.
»Ich denke nicht viel über sie nach.«
»Bestimmt bedauerst du die Leute, deren Verstand sie verdorben haben.«
»Natürlich, falls es sie geben sollte.«
»Sie machen sich die Leichtgläubigkeit zunutze, sie beuten Furcht aus, sie fördern den Aberglauben.«
»So verdienen sie sich eben ihren Lebensunterhalt.«
Marcus schnaubte ärgerlich. Er gehörte zu den Leuten, die es noch immer nicht müde geworden waren, Heuchelei und Schwindel anzuprangern. Er hatte einfach noch nicht begriffen, welche Rolle solche Dinge im komplizierten Webmuster des Lebens spielten. Was war, wenn einige Menschen Lügen brauchten, sie der Preis für ihre geistige Sicherheit waren? Sollte man ihnen trotzdem ihren Trost nehmen, sie ihrer Illusionen berauben? War ihr Glück weniger wert als das anderer Menschen?
Wenn sie etwas Derartiges brauchen, ist es dann nicht besser, ihnen zu sagen, daß die Illusionen die Realität darstellen, die Lügen die Wahrheit sind? Und wenn es viele nach solchen Dingen verlangte, war es dann ein Wunder, daß sich Menschen fanden, die ihnen diese Ware verkauften, vielleicht sogar aus aufrichtigen Beweggründen?
Ich dachte darüber nach. Im Gegensatz zu Marcus kannte ich viele Gesellschaftsformen, die unnatürlich waren, die den falschen, auf Mythen und Lüge basierenden Weg eingeschlagen hatten. Vielleicht mißbilligte Marcus die Erleuchteten deshalb so sehr. In seiner Welt erschienen sie ihm als Anomalie, als sinnlos und gefährlich.