»Glaubst du an die Priesterkönige?« fragte Marcus.
»Aber sicher.«
»Ich nicht.«
»Das ist deine Angelegenheit.«
»Aber wie sollen wir dann die Waffengesetze oder den Flammentod erklären?«
»Das dürfte doch wohl eher dein Problem sein«, erwiderte ich, »da ich ihre Existenz akzeptiere.«
»Etwas existiert«, sagte er, »aber es sind keine Priesterkönige.«
»Das ist ein interessanter Gedanke.«
»Sie gebieten eben nur über die Macht der Priesterkönige.«
»Noch ein interessanter Gedanke«, sagte ich. »Aber wenn sie über die Macht von Priesterkönigen gebieten, warum sie dann nicht auch Priesterkönige nennen?«
»Glaubst du, es würde sie stören, wenn ich es nicht hie?«
»Vermutlich nicht.« Es verhielt sich tatsächlich so; solange sich die Menschen an die Gesetze der Priesterkönige hielten, ließen die sie tun, wonach ihnen der Sinn stand. Die Hauptsorge der Priesterkönige bestand offenbar darin, so wenig wie nur möglich mit den Menschen zu tun zu haben. Dafür hatte ich immer großes Verständnis gehabt.
»Aber wie sieht die Beziehung der Erleuchteten zu den Priesterkönigen aus, falls es sie gibt?« fragte er.
»Meiner Meinung nach dürfte sie, vorausgesetzt sie existieren, eher schwach ausgeprägt sein.«
»Du glaubst also nicht, daß die Priesterkönige ständig engen Kontakt zu den Erleuchteten pflegen?«
»Würdest du gern in engem Kontakt mit den Erleuchteten stehen?« fragte ich ihn.
»Mit Sicherheit nicht.«
»Siehst du.«
Ein Bäcker ging vorbei und musterte uns mit furchtlosem Blick. »Sieh dir den an!« sagte Marcus.
»Das ist doch nur ein Mann.«
»Er geht aufrecht und voller Stolz daher.«
»Er wird nicht mehr stolz sein, wenn ihn erst einmal eine cosische Patrouille verprügelt hat«, meinte ich.
»Wie dem auch sei«, sagte Marcus, »die Macht der Erleuchteten hat deutlich abgenommen.«
»Zumindest im Augenblick.«
»Im Augenblick?«
»Sollten die Bürger wieder verwirrt und ängstlich werden«, sagte ich, »sollten sie wieder anfangen zu jammern und nach einer Führung verlangen, werden auch wieder die weißen Gewänder auf der Straße zu sehen sein.«
»Als Leitbilder braucht man die Erleuchteten unbedingt.«
»Das ist wahr.« Es konnte auch eine Kaste, der Staat oder ein Führer sein.
»Die Erleuchteten hätten der Kern einer Widerstandsbewegung gegen Cos sein können«, sagte Marcus.
»Cos hat schon dafür gesorgt, daß es nicht dazu kam, und zwar mit Geschenken und Opfergaben.«
»Damit sie ihre Passivität und Resignation predigten?«
»Natürlich«, sagte ich. »Aber verringere die Opfergaben, bedrohe ihre Schätze, stelle ihre Macht in Frage, und es wird nicht lange dauern, bis sie ihren Patriotismus wiederentdeckt haben.«
»Cos ist sehr gerissen«, sagte Marcus.
»Allerdings.«
»Ich hasse die Erleuchteten!«
»Das habe ich mir schon gedacht.«
»Ich verabscheue sie.«
»Vielleicht –kannst du dich ja bloß nicht dazu überwinden, dich an Unehrlichkeit zu erfreuen und blanken Schwindel und Heuchelei zu feiern.«
»Sollte die Erklärung dafür so einfach sein?«
»Wer weiß.«
»Ich habe meine Grenzen«, stellte Marcus bestimmt fest.
»Wer hat die nicht.«
»Und doch ist die Welt sehr geheimnisvoll.«
»Das ist wahr.«
»Was ist nur ihre Natur?«
Ich sagte: »Ich bin sicher, daß ich das nicht weiß.«
Plötzlich schlug er sich mit der geballten Faust in die Hand. Es mußte weh getan haben. Ein Passant drehte sich um, sah ihn an und ging dann weiter. »Aber ich bin hier!« rief Marcus aus und betrachtete die Straße, die Gebäude, die Bäume, die Springbrunnen und den Himmel. »Und hier lebe ich!«
»Das halte ich für einen vernünftigen Gedanken«, erwiderte ich.
»Tarl, ich habe diese Unterhaltung sehr genossen«, sagte er. »Sie hat mir viel bedeutet.«
»Ich habe nicht das geringste verstanden.«
Er schnaubte. »Manche Leute sind so oberflächlich!«
»Aber vielleicht hast du ja recht«, räumte ich ein. »Vielleicht hat sich ja tatsächlich etwas in Ar verändert.«
»Ganz bestimmt!« sagte er und betrachtete ein Mädchen.
»Bleib stehen, Frau!« befahl ich.
Die Sklavin gehorchte.
»Sie ist nicht die erste, die du in letzter Zeit gesehen hast.«
»Nein«, sagte ich. Die Sklavin wollte niederknien, aber ich schüttelte den Kopf. Marcus und ich gingen um sie herum.
»Sieh nur die Kürze ihrer Tunika«, sagte Marcus. »Der tiefe Ausschnitt, der ärmellose Schnitt.«
»Ja«, sagte ich.
Das Mädchen errötete.
»Das ist ein Zeichen, daß die Männlichkeit der Männer Ars wiedererstarkt.«
»Allerdings.«
»Dir ist sicher nicht entgangen, daß in letzter Zeit viele Sklavinnen leichter gekleidet sind als zuvor.«
»Nein, natürlich nicht.«
»Ich finde es offensichtlich, daß die Bürger ihre Männlichkeit zurückerobern«, sagte er. »Sie werden wieder gefährlicher.«
»Ja.«
Ein paar Wochen zuvor hatte es Gerüchte gegeben, das Ubarat wolle die Männlichkeit der Bürger von Ar beschneiden und unterdrücken. Das geschah unter dem Deckmantel einer Kleiderordnung, die die Zurschaustellung der Sklavinnen einschränken und nur die erste einer Reihe von geplanten Maßnahmen sein sollte. Es war die Rede davon, allen Sklaven größeren ›Respekt‹ entgegenzubringen und dergleichen mehr. Natürlich sollten die Bürger damit nur noch weiter unterdrückt, ja, kastriert werden. Aber dieser vorsichtige Versuch war auf einen derart verbissenen Widerstand gestoßen, daß man ihn sofort zurückgezogen hatte. Tatsächlich war auf den Anschlagtafeln sogar ein Aufruf der Ubara erschienen, daß Sklavinnen ihren Herren gehorchen sollten. Dieser Rückzieher war vernünftig gewesen. Die Männer von Ar wären bestimmt eher gestorben als auch noch die letzten, von der Natur vorgegebenen Reste ihrer Männlichkeit aufzugeben.
»Sicher werden den Cosianern die Veränderungen nicht entgehen«, sagte Marcus, als wir die Sklavin entließen und weitergingen. »Ich habe gehört, daß es unter den Jugendlichen zu Kämpfen gekommen ist. Diese Banden, die sich ›Cosianer‹ nennen und alles Cosische nachahmen, werden von anderen mit so farbigen Namen wie ›die Larls‹ oder ›die Ubars‹ überfallen.«
»Das habe ich auch gehört.«
»Interessanterweise hat es den Anschein, daß einige der Jungen, die sich früher als ›Cosianer‹ gaben, jetzt ganz andere Farben und Haarschnitte tragen, und zwar solche, die man den aus dem Delta zurückgekehrten Veteranen zuschreibt.«
Ich nickte. Das war mir ebenfalls nicht verborgen geblieben. Dabei konnte ich mich noch genau daran erinnern, wie diese Veteranen vor Monaten in der Stadt nicht willkommen gewesen waren. Trotz der Strapazen und Entbehrungen, die sie im Namen ihrer Heimstadt auf sich genommen hatten, hatte man sie verachtet. Man hatte sie beleidigt, angespuckt und lächerlich gemacht. Gefühle, die man besser für den Feind aufgespart hätte, ließ man an den eigenen Brüdern aus. Einige Bürger hatten sie als Versager beschimpft, als besiegte Narren, die sich oben im Norden hatten dezimieren und demütigen lassen, als Männer, die es gewagt hatten, ohne die Krone des Sieges in das stolze Ar zurückzukehren. Es wäre besser gewesen, sagte man, sie wären alle im Sumpf gestorben, anstatt in Schande nach Hause zurückzukehren. Aber die das sagten, waren nicht im Delta dabeigewesen oder hatten je eine Waffe in der Hand gehalten. Andere, die sich die politischen Täuschungsmanöver von Cos zu eigen gemacht hatten, hatten die Veteranen als potentielle Kriminelle sowie als imperialistische Kriegstreiber beschimpft, als entsprächen Cos’ Bestrebungen nicht denen Ars. Viele Männer waren verwirrt und verbittert. Hatten sie dafür ihre Pflicht getan, war das die Belohnung für das, was sie im Delta hatten aushalten müssen: Tharlarion, Insekten, Hunger, die Pfeile der Rencebauern, die Klingen von Cos?