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Die Rufe der Bürger wurden immer lauter. »Laßt ihn los! Was habt ihr mit ihm vor? Was geschieht mit ihm?«

»Er wird gepfählt!« verkündete einer der Söldner.

Das rief einen wütenden Aufschrei hervor.

»Ich frage mich, ob die Söldner wissen, daß sie in Gefahr schweben«, sagte Marcus.

»Vermutlich bezahlt man sie gut«, erwiderte ich. »Ansonsten würden sie nämlich ganz schön ausgenutzt.«

»Rettet mich!« rief der Bärtige. »Laßt nicht zu, daß sie mich fortschaffen!«

»Zurück, ihr Sleen!« brüllte der Söldner, der den Mann festhielt.

»Zurück, Arer!« rief der andere.

»Auf jeden Fall sind sie nicht besonders diplomatisch«, bemerkte Marcus.

Ich nickte. »Nicht mal höflich.«

Der Gefangene wehrte sich. Man hatte ihm nicht nur die Hände auf den Rücken gefesselt, sondern zusätzlich ein Seil um ihn geschlungen, so daß ihm die Arme an den Körper gebunden waren.

»Ein hoffnungsvolles Zeichen sehe ich«, meinte Marcus. »Offensichtlich besteht Sympathie für die Deltabrigade.«

»Ja.«

Der Gefangene wehrte sich immer heftiger.

»Hast du den Eindruck, daß hier verkleidete Wächter in der Nähe sind?« fragte ich Marcus. Ich versuchte schon seit einiger Zeit, mir darüber klar zu werden.

Er sah sich um. Schließlich sagte er: »Ich glaube kaum.«

»Vielleicht ist es dann an der Zeit, unsere Armbinden zu entfernen, die Umhänge zu wenden und die Halstücher über den Kopf zu binden.«

Marcus nickte grimmig. »Ja, denn der arme Kerl braucht dringend ein paar Retter.«

Im Handumdrehen hatten wir die Armbinden verschwinden lassen, und nach einigen weiteren Veränderungen unseres äußeren Erscheinungsbildes bahnten wir uns einen Weg durch die Menge.

»Gebt ihm die Freiheit wieder!« rief ich. Nicht umsonst hatte ich einst bei der Truppe von Boots Tarskstück auf der Bühne vorsprechen dürfen. Auch wenn sich daraus nichts ergeben hatte.

»Wer bist du?« fragte der Söldner. Er war auch nicht übel. Bestimmt wußte er, mit wem er in dieser Situation zu rechnen hatte. Der Gefangene strahlte plötzlich. Angesichts der Halstücher vor den Gesichtern und der blankgezogenen Klingen gab es kaum einen Zweifel, wer wir waren.

»Die Brigade!« flüsterten einige der umstehenden Männer freudig erregt. »Laßt ihn frei!« rief ein Mann und fuchtelte mit seinem Stab herum. Ich hoffte, daß sich die Menge nicht auf die Söldner stürzte, denn dann blieb bestimmt nicht viel von ihnen übrig. Aber es hatte den Anschein, als begriffen sie nicht, in welcher Gefahr sie schwebten. So wenig Respekt hatte man heutzutage anscheinend vor den Männern aus Ar.

Natürlich war es durchaus möglich, daß sie die Menge besser einschätzten als ich. Aber ich bezweifelte es. Ich glaube, ich wußte viel besser über die in Ar vorherrschende Stimmung Bescheid, und das nicht erst seit kurzem – die gespannte, für alles bereite, häßliche Atmosphäre, die wie ein dunkler Himmel war, aus dem plötzlich Zerstörung und Blitzschlag niedergehen konnten. Tatsächlich waren es die Söldner, die, wie sich später herausstellen sollte, von mir und Marcus gerettet wurden.

»Wir beugen uns der Übermacht«, sagte der erste Söldner.

»Wir haben keine andere Wahl«, sagte sein Kamerad, der den Gefangenen hielt, anscheinend ähnlich resigniert.

Ein triumphierendes Gemurmel ging durch die Menge.

»Wir sind nur zu zweit«, sagte ich zu dem Söldner, der meiner Meinung nach das Kommando hatte. »Lassen wir doch unsere Klingen entscheiden.«

»Nein, nein, das ist schon in Ordnung.«

»Ihr habt hier zu viele Verbündete«, sagte sein Kamerad.

»Ich bin sicher, daß sie brav sind und sich nicht einmischen werden«, sagte ich.

»Nein!« rief der Mann mit dem Stab. »Wir mischen uns nicht ein!«

»Macht ihnen Platz!« rief ein anderer Bauer. Tatsächlich wichen die Männer zurück.

»Ich sage dir doch, daß wir den Gefangenen freigeben«, sagte der Söldner irgendwie gereizt. »Wir geben ihn frei! Habt ihr das nicht verstanden?«

»Doch.«

»Wir ergeben uns der überlegenen Gewalt.«

»Schön.«

Die Söldner drehten sich um und zogen sich geschickt zurück.

»Ihr müßt fliehen!« rief einer der Straßenhändler. »Sie werden den Wächtern Bescheid sagen, und die kommen mit Verstärkung zurück!«

»Das glaube ich kaum«, sagte ich.

Männer blickten mich überrascht an.

»Ich danke euch, Brüder!« sagte der Gefangene. »Aber unsere Mitbürger haben recht! Wir müssen fliehen! Nehmt mich mit, versteckt mich!«

Ich schob das Schwert in die Scheide zurück, Marcus folgte meinem Beispiel.

»Schnell! Nehmt mir die Fesseln ab!« rief der Gefangene. »Und dann laßt uns verschwinden!«

Ich betrachtete seine Fesseln. »Die scheinen dich aber nicht besonders sorgfältig gefesselt zu haben«, sagte ich dann.

»Heh!« brüllte er. »Was tust du da? Au!«

»Jetzt bist du richtig gefesselt!«

Der Bärtige kämpfte kurz gegen die Seile an. Dann erkannte er seine Hilflosigkeit. »Was soll das denn?«

»Ja, was tust du da?« fragte einer der Zuschauer.

Ich ging in die Hocke, schob die Knöchel des Gefangenen zusammen und band einen Riemen darum, damit er keine größeren als einen oder zwei Hort weite Bewegungen mehr machen konnte. Er konnte stehen, aber nicht fliehen.

»Bindet mich los«, verlangte er. »Wir müssen entkommen!«

»Du gehörst der Deltabrigade an?« fragte ich.

»Ja, genau wie du!«

»Wieso sagst du das?« fragte ich.

»Du hast mich gerettet!«

»Du betrachtest dich also als gerettet?« fragte ich.

»Sicher, du mußt doch wie ich auch ein Angehöriger der Brigade sein.«

»Ich glaube nicht, daß ich dich kenne«, meinte ich.

»Ich gehöre nicht zu deiner Zelle«, antwortete er.

»Aber vielleicht sind wir gar nicht von der Deltabrigade«, sagte ich.

Er starrte uns an. »Wer seid ihr dann?«

»Vielleicht sind wir loyale Bürger Ars«, sagte ich, »die, wie es sich für die Anhänger des neuen Ars gehört, die Deltabrigade hassen und gegen sie sind, die in ihr eine Bedrohung für Ars bedingungslose Kapitulation – also für Harmonie und Frieden – sehen. Die sie als Bedrohung für die Herrschaft Cos’ betrachten, als Bedrohung der glorreichen Freundschaft und Verbrüderung der beiden großen Ubarate.«

»Das klingt wie eine Verlautbarung auf den Anschlagtafeln«, bemerkte ein Straßenhändler.

»Auf jeden Fall ein Teil davon«, stimmte ihm ein Bauer zu.

»Ich dachte immer, daß nur die Kleinmütigen und naiven Jugendlichen solchen Schwachsinn ernst nehmen«, sagte ein anderer Straßenhändler.

Der Gefangene blickte sich unsicher um. »Ich verstehe nicht.«

»Bist du für das alte oder das neue Ar?« fragte ich.

»Ich gehöre zur Deltabrigade«, sagte er. »Und es gibt nur ein Ar, das alte Ar, das wahre Ar!«

»Ganz genau«, sagte der Bauer.

»Ein tapferer Bursche«, sagte der Bauer. »Bindet ihn los und versteckt ihn.«

»Nein«, sagte der Gefangene. »Sie haben recht. Sie müssen sich vergewissern, daß ich einer von ihnen bin! An ihrer Stelle würde ich das gleiche tun.«

»Dann beeilt euch«, sagte der Bauer. »Die Zeit könnte knapp werden!«

»Keine Angst«, sagte ich.

Der Gefangene stand nun stolzer, selbstbewußter da. Er rechnete damit, einer Prüfung unterzogen zu werden. Und das wurde er auch, wenn auch nicht auf die Weise, die er erwartet hatte.

»Du stimmst also zu«, sagte ich, »daß das einzige, das wahre Ar das alte Ar war, das verraten wurde und Cos Widerstand entgegensetzt?«

Für einen kurzen Augenblick wurde der Gefangene leichenblaß. Dann sagte er mutig: »Ja, das ist das wahre Ar.«

»Und du stimmst zu, daß Seremides und die Ubara Ar verraten haben und Marionetten der Cosianer sind?«

»Natürlich«, sagte er nach kurzem Zögern.

Hier und da ging ein Raunen durch die Zuschauer. Obwohl es unter ihnen vermutlich nur wenige gab, die Cos nicht verabscheuten und ihm möglicherweise Widerstand entgegenbrachten, waren längst nicht alle von dem Ausmaß des Verrats überzeugt, der so deutlich zu ihrem Sieg beigetragen hatte. Ich fand es von Vorteil, daß die Bürger diese Ansicht von dem Gefangenen hörten.