»Seremides ein Verräter?« fragte ein Mann.
»Talena auch?«
»Ja!« sagte der Gefangene.
»Er gehört offensichtlich der Deltabrigade an«, sagte der Bauer. »Befreit ihn!«
»Du willst, daß wir dich verstecken?« fragte ich.
»Ja«, sagte der Gefangene.
»Dir vertrauen, dich zu unseren geheimen Versammlungsorten mitnehmen, dir unsere Pläne verraten, dich unseren Anführern vorstellen, dich in unsere geheimen Wege der Nachrichtenübermittlung einweihen?«
»Natürlich nur, wenn ihr mich später für vertrauenswürdig haltet.«
Diese letzte Frage sollte der Menge vorgaukeln, die Deltabrigade sei eine entschlossene, disziplinierte, gut organisierte und zahlenmäßig große Macht, die der Bevölkerung berechtigte Hoffnung machen und den Besatzern Furcht einjagen konnte. Natürlich hatte ich nicht die geringste Vorstellung von dem Ausmaß, der Macht und den Möglichkeiten der Deltabrigade. Ich war nicht einmal davon überzeugt, daß es sie überhaupt gab. Zuerst hatten Marcus und ich geglaubt, die Deltabrigade zu sein. Später waren dann Sabotageaktionen in ihrem Namen geschehen, an denen wir nicht beteiligt waren. Es konnten die Taten von Einzelpersonen oder auch ganzen Gruppen gewesen sein, von Patrioten, Kriminellen oder Narren, aber keinesfalls von einer Organisation. Der Brandanschlag auf die Registratur war offensichtlich eine verabredete Tat gesehen, aber das bewies nicht notwendigerweise die Existenz einer ›Brigade‹. Es konnte die Tat einer kleinen Gruppe von Männern gewesen sein, möglicherweise Veteranen des Deltafeldzuges, die ein Interesse daran hatten, es Cos zu erschweren, ihre Identitäten herauszufinden.
»Hast du im Delta gekämpft?« fragte ich.
»Aber sicher.«
»Wer war der Kommandant der Vorhut?«
»Labienus«, antwortete er. »Ein Bürger dieser Stadt.«
»Und sein Stellvertreter?«
»Das weiß ich nicht«, sagte er. »Ich gehörte nicht zur Vorhut.«
»Wer war der Kommandant des Siebzehnten Regiments?«
»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.«
»Vinicius?«
»Ja«, sagte er. »Vinicius.«
»Und des Elften?«
»Keine Ahnung.«
»Toron aus Venna.«
»Ja, du hast recht«, sagte er. »Toron aus Venna.«
»Bei welchem Regiment warst du?«
»Beim Vierzehnten.«
»Kommandant?«
»Honorius.«
»Sein Erster Stellvertreter?«
»Falvius.«
»Der Zweite Stellvertreter?«
»Camillus?«
»Du warst also beim vierzehnten Regiment, als es im Norden des Flußdeltas besiegt wurde?«
»Ja.«
»Zusammen mit dem Siebten, Elften und Neunten?«
»Ja, genau.«
Zuerst nahm ich ihm die Armbinde mit dem Delka ab und steckte sie mir in den Gürtel. Dann riß ich einen Fetzen aus seiner Tunika und stieß ihn ihm in den Mund. Ich band den Knebel mit der Armbinde fest. Er blickte mich zuerst fragend an, dann ängstlich. Ich überkreuzte seine Knöchel, woraufhin er stürzte, und band sie zusammen. Er wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton hervor. Er wollte sich aufsetzen, aber ich stieß ihn zurück, setzte ihm den Fuß auf die Brust und sah auf ihn hinunter. Er sah zu mir hoch, so hilflos wie eine Sklavin.
»Vicinius hat nicht das Siebzehnte befohlen«, sagte ich, »genausowenig wie Toron das Elfte. Vicinius war der Befehlshaber des Vierten Regiments, und Toron der des Dritten. Deine Antworten hinsichtlich der Kommandoketten im Vierzehnten waren richtig, aber das Regiment wurde nicht im Norden besiegt, sondern im Süden, und zwar zusammen mit dem Siebten, dem Neunten und dem Elften. Im Norden wurde das Dritte, Vierte und Siebzehnte Regiment besiegt.«
Er kämpfte vergeblich gegen die Fesseln an.
»Er ist ein cosischer Spion«, sagte ich.
Männer schrien wütend auf.
Der Bärtige, der jetzt tatsächlich ein Gefangener war, sah entsetzt zu uns hoch. Er versuchte sich aufzurichten, die Schultern vom Pflaster zu nehmen, aber wütend niederfahrende Stäbe stießen ihn zurück, und einen Augenblick später lag er flach am Boden, von Stäben niedergedrückt, die jede Bewegung verhinderten und ihn am Boden festnagelten.
»Bringt einen Sack«, sagte ich. »Steckt ihn hinein.«
»Am besten einen der Säcke, die wir für Tarskfleisch benutzen«, sagte der Straßenhändler.
»Ja, genau«, sagte ein Metzger. »Wir hängen ihn neben das Fleisch. So wird er keine Aufmerksamkeit erregen.«
»Und wir werden ordentlich mit unseren Stäben draufschlagen«, sagte der Bauer grimmig, »so wie wir unser Tarskfleisch in den Säcken weichklopfen.«
»Das paßt«, sagte der Straßenhändler.
»Das wird wenig Aufmerksamkeit erregen«, sagte der Metzger.
»Wir werden ihm jeden Knochen brechen«, sagte der Bauer.
»Und am Morgen dafür sorgen, daß man ihn auf den Treppen des Zentralzylinders findet.«
»Genau.«
»Malt ein Delka auf den Sack«, sagte ich.
»Genau!« lachte der Bauer.
Ein Sack wurde gebracht, und man schob den gefesselten Burschen, der wild mit den Augen rollte, hinein. Man verschnürte ihn über seinem Kopf, dann zogen ihn zwei Bauern zur anderen Seite des Platzes zu den Ständen der Metzger.
»Und was ist, wenn er überlebt?« fragte Marcus.
»Das hoffe ich sogar«, sagte ich. »Ich glaube, daß seine gebrochenen Knochen, das Blut, sein Stöhnen, sein Bericht über das Geschehene und sein Entsetzen der Deltabrigade mehr nutzt als sein Tod.«
»Hast du ihn aus diesem Grund verschont?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Er schien ein netter Kerl zu sein, außerdem kannte er die Kommandokette des Vierzehnten Regimentes.«
»Für dich ist alles ein Spiel«, beschwerte sich Marcus, »aber andere Leute sehen das nicht so.«
»Meinst du die beiden Burschen, die man in der Hintergasse fand, in der Nähe der Taverne im Anbar-Bezirk?«
»Ja, mit blutigen Delkas, die man ihnen in die Brust geschnitten hatte«, sagte er. »Gerüchten zufolge wollten sie die Deltabrigade infiltrieren.«
»Interessant.«
»Ich fürchte, es gibt tatsächlich eine Deltabrigade.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Aber vielleicht hast du ja recht.«
»Ist dir aufgefallen, welchen Rückhalt die Brigade bei den Leuten genießt?«
»Ja«, sagte ich. »Den Söldnern auch.«
»Und dem Spion.«
»Natürlich. Hoffen wir, daß er es überlebt, um Bericht erstatten zu können.«
Marcus nickte.
»Dir ist klar, was die Cosianer jetzt tun werden?« fragte ich ihn. »Jetzt, in diesem Stadium des Spiels?«
»Was denn?«
»Sie müssen versuchen, die Deltabrigade zu diskreditieren.«
»Natürlich«, sagte Marcus.
»Aber nicht mehr, indem sie versuchen, sie mit den Veteranen gleichzusetzen.«
»Warum nicht?«
»Weil sich die öffentliche Meinung den Veteranen zuneigt«, sagte ich. »Seremides bringt die Brigade zweifellos mit den Veteranen in Verbindung, und vielleicht nicht einmal ganz zu unrecht, aber er ist klug genug um zu erkennen, daß die Popularität der Deltabrigade die Unterstützung für die Veteranen erhöht hat. Er muß jetzt versuchen, einen Keil zwischen die Veteranen und die Deltabrigade zu treiben.«
»Aber wie?« fragte Marcus.
»Ist das nicht offensichtlich?«
»Nun sag schon«, meinte Marcus ungeduldig.
»Seremides braucht etwas oder jemanden, um die Deltabrigade von den Veteranen zu trennen.«
»Weiter!«
»Er will, daß sich die Bevölkerung von der Deltabrigade abwendet. Darum muß die Brigade als etwas für Ar Abträgliches erscheinen, als Werkzeug seiner Feinde.«
»Welcher Feinde denn?« fragte Marcus. »Doch sicher nicht seiner wahren Feinde Cos und Tyros.«
»Wer hat Ar im Norden verraten?« fragte ich. »Welche Stadt hat dem cosischen Expeditionsheer die Tore geöffnet?«