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»Keine«, sagte Marcus ärgerlich.

»Ar-Station!« Ich lächelte.

»Ich verstehe.«

»Das mußte geschehen«, fuhr ich fort. »Cos braucht einen Feind für Ar, der es natürlich nicht selbst sein kann. Es muß von seiner Tyrannei ablenken. Wenn wir die Veteranen unberücksichtigt lassen, bleibt praktisch nur Ar-Station über. Wie du weißt machen viele Bürger Ar-Station und seine angebliche Unterwerfung nicht nur für ihre derzeitige mißliche Lage, sondern auch für die Katastrophe im Delta verantwortlich.«

»Lächerlich«, schimpfte Marcus.

»Nicht, wenn du die Wahrheit nicht kennst«, sagte ich, »und dir nur die cosische Propaganda und die Lügen der verräterischen Regierung im Zentralzylinder zur Verfügung stehen.«

»Das ist also dein Spiel?«

»Ja. Mit dem, was wir in Bewegung gesetzt haben, haben wir Seremides gezwungen, die Verteufelung von Ar-Station fortzusetzen.«

»Und für seine Kampagne wird er den Heimstein von Ar-Station brauchen?«

»Genau.«

»Und das hast du geplant?«

»Für unsere Zwecke.«

»Auch für dich?«

»Auch ich habe ein bestimmtes Interesse daran«, mußte ich zugeben.

»Aber ich glaube nicht, daß es dir um den Heimstein geht.«

»Nein«, erwiderte ich. »Es hat mit etwas anderem zu tun.«

»Die Menge hat sich aufgelöst«, sagte Marcus. »Ich glaube, es wäre besser, wir würden uns zurückziehen.«

Ich nickte, und ein paar Augenblicke später hatten wir in einer abgeschiedenen Ecke wieder unsere gewöhnliche Kleidung angelegt und sahen wie Hilfswächter aus, Angehörige der von Cos bezahlten Ordnungsmacht.

»Wie sieht dein Plan aus? Den Platz anzugreifen, auf dem der Heimstein wieder ausgestellt werden wird, falls sich Seremides dazu entschließt, ihn dem Spott der Öffentlichkeit preiszugeben?«

»Das wird er«, sagte ich.

»Und welchen Angriffsplan hast du dir ausgedacht?«

»Ich habe nicht vor, irgend etwas anzugreifen.«

»Wie willst du denn sonst an ihn herankommen?«

»Ich habe vor, ihn von jemandem mitnehmen zu lassen.«

»Mitnehmen? Glaubst du nicht, daß sie ihn vermissen werden?«

»Nein.«

»Warum nicht.«

»Weil er noch immer da sein wird.«

»Du bist verrückt«, sagte Marcus.

16

»Wohin ist sie verschwunden?« rief ein Zuschauer.

»Ich traue meinen Augen nicht!« sagte Marcus. »Sie saß doch noch eben in der Sänfte!«

Ich machte bloß: »Pst!«

»Ich begreife nicht, was ich da gesehen habe.«

Marcus und ich standen in der Grube, Schulter an Schulter mit den anderen Zuschauern vor der niedrigen Bühne. Für diejenigen, die Lust hatten, statt einem zwei Tarskstücke Eintritt zu bezahlen, erhoben sich hinter uns mehrere Sitzreihen.

Die vier modisch gekleideten Burschen mit den Turbanen trugen die Sänfte mit den jetzt offenen Vorhängen von der Bühne, als wäre nichts geschehen.

»Sie ist verschwunden!« sagte ein Mann verblüfft; der Kleidung nach gehörte er zur Kaste der Schriftgelehrten.

»Aber wohin bloß?« fragte ein anderer Zuschauer, offensichtlich ein Metzger.

»Sie kann sich doch nicht in Luft auflösen.« Das kam von einem Mann, der links von uns stand, einem Bauern.

»Und doch hat sie genau das getan«, sagte ein Hirte.

Wir befanden uns in einem kleinen, schäbigen Theater. Die Vorderbühne war offen. Der Saal hatte einen Durchmesser von etwa zwanzig Metern. Es war das vierte Etablissement dieser Art, das wir an diesem Abend besuchten. Draußen auf den Straßen gab es genügend andere Vergnügungsstätten; aufgebaute Buden, in denen meistens Zauberkunststücke mit kleinen Gegenständen wie Ostraka, Ringen, Schals oder Münzen vorgeführt wurden. Ich sehe mir derartige Vorführungen gern an und bin ein großer Bewunderer der Geschicklichkeit, Beweglichkeit und des Könnens, die dafür nötig sind.

»O je!« rief der dicke Kerl, der auf der Bühne herumwatschelte, der sich aber, wenn man genau hinsah, trotz seines Gewichts mit einer gewissen Leichtfüßigkeit und Anmut bewegte. »Sollte ich meine Sklavin verloren haben?«

»Finde sie!« rief ein Zuschauer.

»Genau!« rief der Kaufmann.

Die Rufer meinten das todernst. Davon war ich fest überzeugt. Vielleicht sollte ich in diesem Zusammenhang erwähnen, daß viele Goreaner, vor allem die Angehörigen der niederen Kasten, die im allgemeinen lediglich Zugang zu einer ›Grundbildung‹ haben, solche Dinge sehr ernst nehmen und fest davon überzeugt sind, nicht etwa Zeugen von Zauberkunststücken, Taschenspielertricks und Sinnestäuschungen, sondern von unerklärlichen Phänomenen geworden zu sein, die das Werk ungewöhnlicher Persönlichkeiten wie Zauberer und Magier sind. Für diese Arglosigkeit sind ohne jeden Zweifel mehrere Faktoren verantwortlich zu machen, wie zum Beispiel die Primitivität dieser Welt, die Isolation der Städte und die eingeschränkten, mühseligen Kommunikationswege.

Davon abgesehen neigt der Goreaner dazu, die Welt weder als ein aus voneinander abhängigen Teilen zusammengesetztes Uhrwerk noch als große, vorhersehbar arbeitende Maschine zu betrachten; sie ist für ihn auch kein sich jeder Erklärung und Ordnung entziehendes, bedeutungsloses und zufälliges Spiel. Er würde das Geheimnis der Welt eher mit der fundamentalen Metapher des Baumes mit den starken Wurzeln oder der Blume beschreiben. Für ihn ist die Welt real und lebendig. Er bemalt seine Schiffe sogar mit Augen, damit sie sehen können. Und wenn er schon so über seine Fahrzeuge denkt, wie muß ihm dann zumute sein, welche Ehrfurcht und Andacht wird er empfinden, wenn er über die Großartigkeit, die Macht und die Schönheit dessen nachsinnt, in dem er sich wiederfindet? Warum gibt es die Schöpfung überhaupt? Warum herrscht nicht das Nichts? Wäre das ›Nichts‹ nicht viel wahrscheinlicher, rationaler, wissenschaftlicher? Wann begann die Zeit? Wo endet der Raum? An einer Linie, der Oberfläche einer Kugel? Erzwingen erst unsere Definitionen die Realität?

Der Goreaner sieht die Welt weniger als ein Rätsel, sondern vielmehr als Gelegenheit, als eine Beute, an der man sich erfreut; weniger als ein Problem, das seiner Lösung harrt, sondern vielmehr als Geschenk, das man voller Dankbarkeit entgegennimmt.

Und noch etwas läßt sich zu der Neigung der Goreaner, Illusionen als Realität zu akzeptieren, anmerken: Sie nehmen solche Dinge wie Ehre und Wahrheit ungemein ernst. Und bei einer solchen Kultur und mit diesem Hintergrund sind sie leichter zu beschwindeln als andere; der durchschnittliche Goreaner ist ein wesentlich leichteres Opfer für einen Betrüger oder Scharlatan als ein mißtrauischer, zynischer Mann.

Andererseits rate ich niemanden, Goreaner zu belügen. Es gefällt ihnen gar nicht.

»Ich hätte die Hand ausstrecken und sie berühren können«, sagte Marcus.

Das bezweifelte ich dann doch, obwohl wir sehr nahe bei der Bühne standen.

Vier mit Turbanen gekrönte Männer hatten vorhin eine leichte, mit einem baldachinähnlichen Dach und weißen Vorhängen ausgestattete Sänfte auf die Bühne gebracht. Sie hatten sie abgestellt und die Vorhänge zurückgezogen, so daß man den mit dunklen Vorhängen bedeckten Bühnenhintergrund hatte sehen können. In der Sänfte hatte ein schlankes Mädchen gelegen, das ein Gewand aus schimmernder weißer Seide mit dazu passendem Schleier trug und sich hochmütig auf einen Ellbogen aufstützte.

»Hier handelt es sich sicher um eine hochwohlgeborene Dame!« hatte der Dicke gerufen, während er um die Sänfte herumging.

Das hatte schallendes Gelächter hervorgerufen. Freie Frauen erscheinen so gut wie nie auf einer Bühne. Das geht sogar so weit, daß man bei bestimmten Theaterstücken wie den großen Tragödien die Frauenrollen nicht von freien Frauen oder Sklavinnen spielen läßt, sondern von Männern. Die Masken und die Kostüme verraten dem Zuschauer, bei welchen Rollen es sich um Frauen handelt.

Der Dicke streckte die Hand aus und half dem Mädchen aus der Sänfte; sie blickte sich gelangweilt um.

»Das kann doch unmöglich meine Sklavin Litsia sein?« jammerte der Dicke.