Zur Freude des Publikums streckte sie die Arme aus, ergriff das Bein des Dicken, schmiegte sich daran und küßte ihn demütig auf den Oberschenkel.
»Und ich habe vielleicht auch etwas gelernt«, sagte der Dicke. »Ein richtiger Herr zu sein.«
Applaus und Begeisterungsrufe ertönten, die Truppe verbeugte sich, während das Mädchen dem Publikum ihren Gehorsam erwies, bevor sie in ihren Ketten, die ihr nur kleine Schritte erlaubten, von der Bühne geführt wurde.
Die Vorstellung hatte Marcus erschüttert.
Wir verließen das Theater. An diesem Abend würden wir keine weiteren Aufführungen mehr ansehen, da alle Lokale wegen der Ausgangssperre bald schließen würden. Außerdem hatte ich gefunden, was ich gesucht hatte, den Mann, mit dem ich Kontakt aufnehmen wollte.
»Ich bin verwirrt von dem, was ich gesehen habe«, gestand Marcus.
»Wieso?«
»Ist er ein echter Magier, oder steht er mit ihnen im Bunde?«
»Das kommt darauf an, was du unter ›Magier‹ verstehst«, antwortete ich.
»Du weißt schon, was ich meine«, sagte Marcus gereizt.
»Ich glaube nicht.«
»Na, einer, der die magischen Künste beherrscht!«
»Ach so.«
»Ich weiß nicht, ob es klug ist, Magie auf eine solche Weise zu benutzen«, sagte Marcus. »Gegen Bezahlung, vor einem Publikum.«
»Warum lassen sie statt dessen keine Goldstücke erscheinen?« sagte ich.
»Ja, genau.«
»Mein lieber Marcus, das sind Zauberkunststücke«, sagte ich. »Man führt sie auf, um zu unterhalten.«
So leicht gab sich Marcus nicht zufrieden. »Der Magier oder der Magier, mit dem der Künstler im Bunde steht, gebietet offensichtlich über außergewöhnliche Kräfte.«
»Im gewissen Sinne schon«, gab ich zu. »Ich wäre der letzte, der sie unterschätzen oder heruntermachen würde. Sie verfügen über ungewöhnliche Kräfte. Aber das tust du auch. Zum Beispiel hast du ungewöhnliche Fertigkeiten im Umgang mit der Klinge, dem Stahl des Krieges.«
»Das sind doch nur Dinge, die mit Blut, Instinkt, Können, Kraft, Reflexen und Übung zu tun haben. Einfache Fertigkeiten.«
»Auch der Magier verfügt über gewisse Fertigkeiten«, erwiderte ich. »Sie sollten entsprechend gewürdigt werden. So etwas bereichert unser Leben. Erfreuen wir uns an seinen Erfolgen.«
»Ich glaube nicht, daß ich verstehe, was du meinst.« Sein Tonfall klang plötzlich mißtrauisch.
»Möchtest du gern wissen, was hinter den Kunststücken steckt?« fragte ich.
»Kunststücke?«
»Ja«, sagte ich. »Wenn ich es dir verrate, wirst du sie dann weniger schätzen?«
»Was dahintersteckt?«
»Du glaubst doch nicht allen Ernstes, daß sich eine Sklavin in Luft auflöst und dann wieder in einem Weidenkorb erscheint, oder?«
»Sicher ist das nur schwer zu glauben«, sagte Marcus nachdenklich. »Aber ich muß es glauben, denn genau das ist geschehen.«
»Unsinn.«
»Hast du nicht gesehen, was ich sah?« fragte er heftig »In gewissem Sinne schon«, antwortete ich. »Andererseits muß ich der Gerechtigkeit halber sagen, daß jeder von uns das, was wir sahen, auf andere Weise interpretiert.«
»Ich weiß, was ich gesehen habe.«
»Du weißt, was du glaubst gesehen zu haben.«
»Das können keine Taschenspielertricks gewesen sein«, widersprach Marcus ärgerlich. »Diesmal nicht! Hältst du mich für naiv? Ich habe schon von solchen Dingen wie Falltüren und Geheimtüren gehört! Ich habe selbst von Sinnestäuschungen gehört, die mit Spiegeln erzeugt werden! Aber dabei handelt es sich nicht um wahre Magie! Das sind nur Tricks. Ich selbst könnte so etwas tun. Aber das hier war anders. Hier kann es sich offensichtlich nur um Magie gehandelt haben.«
»Wie kommst du darauf?« fragte ich erstaunt.
»Wenn es so viele falsche Magier gibt«, sagte Marcus, »dann muß es auch mindestens einen richtigen Magier geben.«
»Hast du über diese Logik einmal gründlich nachgedacht?«
»Nein.«
»Das wäre aber nicht verkehrt.«
»Vielleicht«, sagte er gereizt.
»Aus der Tatsache, daß die meisten Larls Fleischfresser sind, ergibt sich doch nicht, daß einige Larls anders sind«, sagte ich. »Im Gegenteil, wenn man aufgrund eines derartigen Umstandes schon Schlüsse zieht, dann erscheint die Annahme, daß sie alle Fleischfresser sind, doch die rationalere Lösung zu sein.«
»Also sollte man aus der Tatsache, daß die meisten Magier in Wirklichkeit keinesfalls über magische Kräfte verfügen, nicht ableiten, daß es einige doch tun?«
»Genau.«
»Ich bin durchaus bereit, dir zuzugestehen, daß diese Logik nicht verkehrt ist«, sagte Marcus, »aber in diesem Fall sprechen die Tatsachen für sich!«
»Welche Tatsachen denn?«
»Daß es echte Magie gibt!«
»Wie kommst du darauf?«
»Du hast die Sklavin in der Sänfte gesehen«, sagte Marcus. »Man hat die Sänfte hochgehoben. Glaubst du wirklich, das Mädchen hätte aus einer Falltür schlüpfen können? Das ist völlig unmöglich. Außerdem wurde die Sänfte bewegt. Darum kann es auch keine Spiegel gegeben haben.«
»Nein«, erwiderte ich. »Es wurde ja auch nicht mit Hilfe von Spiegeln gemacht.«
»Richtig, sondern mit Hilfe von Magie.«
»Aber nicht mit dem, was du für ›echte‹ Magie hältst«, sagte ich.
»Wie wurde es denn dann bewerkstelligt?« fragte Marcus gereizt.
»Es gab zwei Zauberkunststücke«, sagte ich. »Bei dem ersten verschwand das Mädchen aus der Sänfte, beim zweiten tauchte es in dem Korb wieder auf.«
»Oder es handelte sich um zwei Wunder«, beharrte Marcus.
»Also gut«, sagte ich seufzend. »Dir ist doch bestimmt nicht entgangen, daß die Sänfte ein Dach hatte, eine Art Baldachin, der von vier Pfeilern gehalten wurde.«
»Stimmt«, sagte er mißtrauisch.
»Diese Pfeiler sind hohl«, sagte ich, »und in ihnen befinden sich Schnüre und Gewichte.«
»Weiter.«
»Die Schnüre sind an einem Ende mit den in den Pfeilern befindlichen Gewichten verbunden und am anderen Ende mit den Ecken einer flachen Platte im Boden der Sänfte, auf der das Mädchen sitzt. Wenn die Vorhänge nun, wie du dich erinnern wirst, zugezogen werden, lösen die Träger die Gewichte. Diese Gewichte sind aber zusammen viel schwerer als die Platte und das Mädchen, das, wie du dich ebenfalls erinnern wirst, sehr schlank und leicht war. Während die Gewichte innerhalb der Pfeiler nach unten gleiten, bewegen sich die Schnüre und ziehen die Platte nach oben bis unters Sänftendach.«
»Das Mädchen wird also oben gehalten und von dem überhängenden Baldachin verborgen?«
»Genau«, sagte ich.
»Ich habe nicht daran gedacht, daß sie in die Höhe gezogen werden könnte«, meinte Marcus ganz kleinlaut.
»Wer täte das schon?« gab ich zu bedenken. »Normalerweise fliegt ja niemand aufwärts. Die meisten Zuschauer würden, wenn überhaupt, an einen falschen Boden denken, aber die Konstruktion der Sänfte, ihre Einsehbarkeit, macht es offensichtlich, daß man in ihrem Boden nichts verbergen kann.«
»Es war keine Magie?«
»Sobald das Mädchen von der Bühne gebracht wurde, ist es kein Problem, sie umzuziehen und ihr einen Sirik anzulegen.«
»Das mit dem Korb war aber echte Magie«, sagte Marcus, »denn wir haben gesehen, wie er vom Boden gehoben und auseinandergeklappt wurde, und er war leer!«
»Was nun den Korb angeht«, fuhr ich fort, »wirst du dich erinnern, daß er auf eine bestimmte Weise getragen und in einer bestimmten Reihenfolge geöffnet und auch wieder geschlossen wurde.«
»Erklär es mir.«
»Entscheidend war, nachdem er auf den Böcken stand, daß zuerst die Rückseite heruntergeklappt wurde, dann die Seiten und schließlich die Vorderseite.«
»Ja, das stimmt.«
»Aber als er wieder geschlossen wurde, kam die Vorderseite zuerst dran, dann die Seiten und zum Schluß die Rückseite.«
Marcus nickte.
»Kurz gesagt, beim Öffnen kam die Rückseite zuerst dran, beim Verschließen zuletzt.«
»Das ist richtig.«
»Das Publikum konnte die Innenseite der hinteren Korbwand am Anfang also nicht sehen«, sagte ich, »weil sie entweder von der Vorderseite verborgen wurde oder dem Bühnenhintergrund gegenüberlag, als sie herunterhing. Später dann wurde sie sowohl von der Vorderseite als auch von den Seitenteilen verborgen, die zuerst hochgeklappt wurden.«