»Aus dem Stadtstaat der Schurken, Verräter und Feiglinge?« fragte Renato der Große.
Ich hielt Marcus zurück.
»Ich freue mich, dich kennenzulernen!« sagte Renato und streckte die Hand aus.
»Paß auf«, warnte ich Marcus, »sonst stiehlt er dir den Geldbeutel.«
»Hier ist deiner«, sagte Renato und gab ihn mir zurück.
»Eine saubere Leistung«, sagte ich ernsthaft beeindruckt. »Ist noch was drin?«
»Fast alles«, sagte mein Freund.
Marcus trat einen Schritt zurück und streckte vorsichtig die Hand aus.
Renato der Große, wie er sich zur Zeit nannte, ergriff sie und schüttelte sie lebhaft. Es war Marcus’ Schwerthand. Ich vertraute darauf, daß sie nicht verletzt wurde. Wir würden sie noch brauchen.
»Woher hast du gewußt, wo du mich findest?« fragte Renato.
»Mit Hilfe von ein paar Silbertarsk zog ich Erkundigungen im Theater ein.«
»Gut zu wissen, daß man Freunde hat.«
»Bewirkst du deine Wunder mit Taschenspielertricks, oder ist es Magie?« wollte Marcus wissen.
»Meistens bediene ich mich bewährter Tricks«, sagte Renato der Große, »aber ich muß zugeben, daß ich manchmal, wenn ich müde bin oder keine Lust oder Zeit habe, mir die Mühe zu machen, die die Tricks erfordern, auf Magie zurückgreife.«
»Siehst du T« sagte Marcus triumphierend zu mir.
»Nun hör schon auf, Marcus«, erwiderte ich.
»Es ist, wie ich dir gesagt habe!« beharrte er.
»Möchtest du eine Demonstration sehen?« fragte Renato eifrig bemüht. »Ich könnte in Betracht ziehen, dich in ein Zugtharlarion zu verwandeln.«
Marcus wurde leichenblaß.
»Natürlich nur für eine gewisse Zeit.«
Marcus trat noch einen Schritt zurück.
»Keine Angst«, sagte ich zu ihm. »Hier im Flur ist nicht genug Platz für ein Tharlarion.«
»Du bist so praktisch veranlagt wie immer«, sagte Renato strahlend. Dann wandte er sich Marcus zu. »Wenn ein Wagen im Schlamm steckenblieb, war er immer der erste, der es entdeckte! Wenn es mal nicht genug zu essen gab, er bemerkte es zuerst!«
Ich hatte schon immer einen gesunden Appetit.
»Ich will nicht in ein Zugtharlarion verwandelt werden«, sagte Marcus gefährlich leise.
»Nicht mal für eine Zeitlang?« fragte ich.
»Nein!«
»Keine Angst«, sagte Renato. »Selbst wenn ich es wollte, könnte ich es nicht.«
»Aber du hast gesagt…«
»Ich sagte, in könnte in Betracht ziehen, dich in ein Zugtharlarion zu verwandeln«, sagte er, »und es ist ziemlich einfach, es sich vorzustellen. Schwierig wird es nur, es tatsächlich zu tun.«
»Macht man sich hier über mich lustig?« fragte Marcus.
»Niemals!« sagte ich. Marcus sah mich stirnrunzelnd an. Ich bin mir nicht sicher, ob er wußte, wie er sich in Gegenwart zweier Burschen wie mir und Renato verhalten sollte.
»Und was treibst du so?« fragte Renato den jungen Krieger. »Jonglierst du, oder bist du ein Seiltänzer? Unser Freund Tarl hier war ausgezeichnet darin, sich an einem Draht festzuklammern. Einer seiner besten Tricks.«
Es war nicht mein Fehler, daß ich kein Lecchio war.
»Ich bin Krieger«, sagte Marcus stolz.
»Das ist aber schade«, sagte der Dicke. »Unsere Militärrollen sind alle besetzt. Wir haben schon einen Hauptmann, einen General und zwei Speerträger.«
Das mußten Petruccio, Andronicus, Lecchio und Chino sein.
»Ich bin kein Schauspieler«, widersprach Marcus heftig.
»Das war noch nie wichtig, um auf der Bühne Erfolg zu haben«, versicherte ihm Renato. »Denk nur an den sagenhaften Milo.«
Marcus’ Lippen verzogen sich zu einem maliziösen Grinsen. Er machte sich nicht viel aus Milo. Oder vielmehr traf es wohl eher zu, daß er sich nicht viel daraus machte, daß Phoebe ihn anschmachtete.
»Ich halte Milo für einen ausgezeichneten Schauspieler«, sagte ich.
»Siehst du?« sagte Renato zu Marcus.
»Ja.«
»Hast du ihn als Lurius von Jad gesehen?« fragte ich.
»Ja. Aufgrund dieser Darbietung habe ich mir ja meine Meinung gebildet.«
»Ich verstehe.« Wie häßlich Eifersucht unter Kollegen doch sein kann.
»Milo hat die Gewandtheit, das Ausdrucksvermögen und das Feingefühl eines Holzblocks.«
»Viele Leute finden ihn eindrucksvoll«, sagte ich.
»Das ist der Brunnen von Hesius auch«, sagte Renato der Große, »und der kann auch nicht schauspielern.«
»Man hält ihn für den schönsten Mann von ganz Ar«, sagte ich. Dann fügte ich nach einigem Nachdenken hinzu: »Für einen der schönsten.«
»Deine Einschätzung ist vernünftig«, sagte Renato.
»Allerdings«, sagte Marcus, der ebenfalls ausgiebig über diese Frage nachgedacht hatte. Bescheiden wie ich war, sagte ich nichts mehr zu dem Thema. Die beiden anderen auch nicht.
Renato wandte sich wieder an Marcus. »Und, hast du in letzter Zeit irgendeinen Heimstein verloren?«
Marcus’ Augen blitzten auf.
»Nimm dich in acht«, sagte ich. »Marcus ist ein empfindlicher Bursche, und er bringt den Arern nicht viel Wohlwollen entgegen.«
»Er weiß eben nicht, was für edle, gutherzige, fröhliche Burschen wir sind«, behauptete der Dicke.
»Warum hast du eigentlich deinen Namen geändert?« wollte ich wissen.
»Auf mich wurden verschiedene Haftbefehle ausgestellt«, erklärte er. »Meine Namensänderung gibt den örtlichen Wächtern auf der Straße der Theater eine Entschuldigung, meine Bestechungsgelder mit gutem Gewissen anzunehmen.«
»Haben die anderen auch ihre Namen geändert?«
»Derzeit schon.«
»Seine Litsia hieß früher Telitsia«, sagte ich zu Marcus.
»Das ist aber keine große Veränderung«, meinte er.
»Sie hat sich ja auch nicht groß verändert«, sagte Renato. Litsia war die Kurzform von Telitsia.
»Ich hoffe, daß ich dir helfen kann«, fuhr er fort. »Leider reisen wir in nächster Zeit nicht, darum sind deine besonderen Talente zur Zeit nicht sehr gefragt.«
»Welche besonderen Talente?« fragte Marcus.
»Er kann einen Wagen ganz allein hochheben«, sagte der Dicke. »Er kann die Pfähle einer Bühne mit der Handkante in den Boden rammen!«
»Er scherzt«, sagte ich.
»Trotzdem würden wir uns freuen, wenn du wieder unseren Kessel teilst, und zwar so lange du willst.«
»Danke.«
»Die anderen würden sich auch freuen, dich zu sehen«, sagte er. »Andronicus jammert häufig über die Beschwerlichkeit körperlicher Arbeit.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Andronicus war ein sensibler Bursche mit einem ausgeprägten Sinn dafür, was sich für einen Schauspieler seiner Qualität gehörte und was nicht. Er war einer der Sänftenträger gewesen. Petrucchio, Lecchio und Chino waren die anderen gewesen. Trotz seiner beachtlichen Statur hielt er sich für schmächtig.
»Kommst du mit rauf?« fragte Renato. »Der Schurke aus Ar-Station, der Heimat von Verrätern und Feiglingen, ist natürlich auch willkommen.«
»Zurück, Marcus«, sagte ich. Dann schüttelte ich den Kopf. »Die anderen dürfen nichts von unserer Begegnung erfahren.«
»Du willst nicht bei uns unterschlüpfen?«
»Nein.«
»Aber du wirst doch von den Behörden gesucht?«
»Eigentlich nicht.«
»Wir könnten dich verstecken. Wir haben alle möglichen Kisten und Truhen, die sich dazu ausgezeichnet eignen.«
Marcus erschauderte.
»Nein.«
»Du bist nicht auf der Flucht?«
»Nein.«
»Dann ist das lediglich ein Höflichkeitsbesuch?«
»Nein.«
Er strahlte. »Dann geht es um ein Geschäft?« Ich nickte. Sein Grinsen wurde breiter.
»Ein Geschäft, das geheim bleiben muß, das mit Gefahr verbunden ist?«
»Es ist sogar außerordentlich gefährlich«, mußte ich zugeben.
Er verschränkte die Arme über der Brust. »Sprich!«
»Wir haben einen Auftrag für dich, einen gefährlichen Auftrag, und ich glaube, du bist einer der fünfzig Männer in Ar, die ihn erledigen könnten«, sagte ich. »Er birgt ein großes Risiko und wenig Aussicht auf Erfolg. Solltest du versagen, wird man dich verhaften und einer ausgeklügelten, langen und schmerzhaften Folter unterziehen, die zweifellos erst Monate später mit der Gnade eines schrecklichen Todes endet.«