Ich setzte mich ihr gegenüber, mit untergeschlagenen Beinen.
»Mein Herr scheint auch nervös zu sein«, sagte Lavinia. Dann wurde ihr bewußt, daß sie keine Erlaubnis zum Sprechen gehabt hatte. »Verzeih, Herr.«
»Schöpfe erst einmal Atem.«
»Danke, Herr.«
Sie hatte es nicht versäumt, ihre Knie in die richtige Position zu bringen. Schließlich befand sie sich in der Gegenwart eines freien Mannes. Wir mußten bald zum Theater von Pentilicus Tallux, dem Großen Theater, aufbrechen, das immerhin zwei Pasang von meiner Wohnung entfernt lag.
»Ich fürchte mich«, sagte sie wieder.
»Wie ist es gelaufen?«
In diesem Augenblick ertönte der Alarmstab, der die Zeit verkündete. In einer großen Stadt wie Ar wurden die Alarmstäbe regelmäßig geschlagen, damit die Bürger wußten, wie spät es war.
»Es ist erst die elfte Ahn«, sagte sie dankbar und schloß erleichtert die Augen.
»Du hast Angst, nicht wahr?« fragte ich.
»Ja«, flüsterte sie. Sie hatte das Recht, Angst zu verspüren. Schließlich war sie nur eine Sklavin.
»Wovor hast du Angst?«
»Vor ihm, in dessen Gegenwart ich mich begeben muß, und dann nur als niedere Sklavin.«
»Ach so«, sagte ich. Ich war eigentlich der Meinung gewesen, ihre Angst rühre von den Geschehnissen des Vormittags her.
»Berichte mir, was im Zentralzylinder geschehen ist«, sagte ich.
»Vieles ereignete sich genauso, wie du es vorausgesehen hattest«, sagte Lavinia. »Ich ging auf den Zentralzylinder zu. Ich kniete vor den Wachen nieder und senkte den Kopf. Die verschlossene Briefröhre berührte beinahe die Pflastersteine. Ich sah auf. Dann berichtete ich von meinem Auftrag, daß ich eine private Botschaft für die Ubara hätte, von Appanius’ Haus. Sie überprüften meinen Kragen und waren davon überzeugt, daß ich eins von Appanius’ Mädchen war. Die Wächter glaubten kaum, daß man mich zur Ubara vorließe, aber zu ihrer Überraschung erlaubte man es mir.«
»Man hat dich eingelassen, weil der Brief möglicherweise von einem ganz bestimmten Mitglied von Appanius’ Haushalt stammte und nicht von Appanius selbst, der kaum etwas direkt mit der Ubara zu tun hat«, sagte ich. »Die Ubara vermutete und hoffte vielleicht sogar, daß der Brief von dieser Person kam. Daß er auch noch ›privat‹ war, hatte ihre Vermutung nur noch verstärkt und sie neugierig gemacht.«
»Ja, Herr.«
Lavinia hatte natürlich mit auf den Rücken gefesselten Händen bei den Wächtern des Zentralzylinders vorgesprochen, und mit einer an ihrem Hals befestigten Briefröhre. Auf diese Weise hätte sie das Schreiben unmöglich lesen können und würde garantiert nichts von seinem Inhalt wissen. In gewissem Sinne stimmte das auch, da Marcus und ich den Brief mit Phoebes Hilfe am vergangenen Abend verfaßt hatten, während sie zu den Anschlagtafeln gegangen war, um nach Bekanntmachungen Ausschau zu halten, die möglicherweise von uns für Interesse waren. Es ist besser, wenn die Sklavinnen die Tafeln am frühen Morgen oder Abend besuchen, wenn dort nicht so viel Gedränge herrscht. Natürlich wußte sie in groben Zügen, worum es bei dem Brief ging und welche Rolle er in unseren Plänen spielte. Nachdem Lavinia den Zentralzylinder wieder verlassen hatte, hatte ich sie am vereinbarten Treffpunkt schon erwartet, ihr die Handschellen und die Briefröhre abgenommen und ihr den Umhang gegeben. Dann waren wir auf verschiedenen Wegen zum insula zurückgekehrt.
»Erzähl weiter.«
»Man überprüfte meine Handschellen«, sagte sie. »Wie man herausfand, war ich perfekt gefesselt.«
Ich nickte. Daß Lavinia vorher die Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt worden waren, war lediglich als Annehmlichkeit für die Wächter gedacht gewesen. Das ersparte ihnen die Mühe, es selbst tun zu müssen, bevor sie sie vor die Ubara führten.
»Dann legten sie mir zwei Leinen an.«
»Ein Eisenkragen, mit Ketten auf jeder Seite?«
»Ja, Herr.«
Das überraschte mich nicht. Die Wächter hätten nicht riskiert, sie so ohne weiteres zur Ubara zu bringen, nicht einmal mit den Handschellen.
»Erzähl weiter«, sagte ich.
Und Lavinia gehorchte und berichtete, und ich hörte zu, ohne sie auch nur einmal zu unterbrechen.
Fünf Wächter führten mich, Lavinia, durch das Flügeltor des Zentralzylinders. Der Anführer ging zuerst. Zwei Männer gingen rechts und links von mir, jeder hielt eine Leine. Zwei Wächter mit Speeren bildeten den Abschluß. Im Inneren des Tores setzte man mir eine Haube auf, dann führten sie mich durch ein Labyrinth aus Gängen und Abzweigungen und verschiedenen Ebenen. Manchmal drehten sie mich sogar ein paarmal im Kreis. Ich hatte jede Orientierung verloren und nicht die geringste Vorstellung, wo genau im Zentralzylinder ich mich befand. Schließlich befahl man mir niederzuknien. Ich gehorchte, kniete nieder, spreizte die Beine und senkte den Kopf, wie es sich gehört, dabei hatte ich den Eindruck, daß man die Leinen am Boden festmachte.
Plötzlich ertönte eine Frauenstimme. »Gib mir den Brief meines guten Freundes Appanius«, sagte sie. Die Stimme schien freundlich, sogar nett zu sein, aber irgendwie klang da ein drohender, bösartiger Unterton durch.
Ich fühlte, wie man den Brief aus der Röhre nahm. Vermutlich war das der Anführer der Wächter. Eine Zeitlang herrschte Stille. Dann ergriff die Frau erneut das Wort.
»Es ist nichts Besonderes«, sagte sie. »Nur eine Nachricht von unserem Freund Appanius, es geht um ein neues Theaterstück. Laßt uns nun allein. Aber bevor ihr geht, enthüllt das Gesicht der Sklavin. Ich will es sehen.«
Man nahm mir die Haube ab.
Allem Anschein nach kniete ich in einem privaten Audienzgemach, irgendwo in den Tiefen des Zentralzylinders. Es wurde von Lampenschein erhellt. Die Wandteppiche waren scharlachrot und prächtig. Ein paar Schritte vor mir befand sich ein Podest, und auf diesem Podest saß eine königliche Gestalt, die ein kostbares Gewand der Verhüllung mit einem wunderbaren Schleier trug, auf einem kurulischen Stuhl. Ich war sprachlos.
»Wir warten draußen«, sagte der Befehlshaber der Wächter. Er und seine Männer zogen sich zurück.
Ich blickte die Frau auf dem Stuhl demütig an. Anscheinend nahm sie keine Notiz von mir. Sie las den Brief wieder und wieder, offensichtlich mit großem Interesse.
Die Ketten, die an dem Metallkragen um meinen Hals befestigt waren, hatte man an im Boden eingelassenen Ringen eingeklinkt. Ich konnte nicht aufstehen.
Die Frau sah auf mich herab. Ich senkte den Kopf bis zum Boden.
»Ist das die Art, wie du vor einer freien Frau kniest?« fauchte sie.
»Vergib mir, Herrin«, schluchzte ich. »Die Wächter waren anwesend!«
»Aber jetzt sind sie nicht mehr da«, erwiderte sie, »und selbst wenn sie es wären, bin ich hier die Herrin und nicht sie!«
»Vergib mir, Herrin!« flehte ich sie an.
»Du wirst sittsam vor mir knien.«
»Ja, Herrin.« Und ich schob die Oberschenkel zusammen und gab mir die allergrößte Mühe, so sittsam und anständig vor ihr zu knien, wie ich nur konnte.
Die Frau musterte mich. Ich wagte es kaum, den Blick zu heben. Meistens hielt ich den Kopf gesenkt. Ich zitterte sogar. Man kann sich sicher vorstellen, wie klein und bedeutungslos ich mir in Gegenwart der Ubara von Ar vorkam.
»Dieser Brief kommt nicht von Appanius«, sagte sie schließlich.
»Nein, Herrin«, antwortete ich.
»Weißt du, wer ihn geschrieben hat?«
»Der schöne Milo«, sagte ich.
»Kennst du seinen Inhalt?«
»Nein, Herrin.«
»Kannst du lesen?«
»Ja, Herrin.«
»Aber du hast ihn nicht gelesen?«
»Nein, Herrin.«
»Hast du eine Ahnung, worum es hier geht?«
»Ich fürchte schon, Herrin«, sagte ich.
»Weiß du, wer ich bin?«
»Die majestätische und wunderschöne Talena, die Ubara des glorreichen Ar.«
»Man könnte ihn schon allein für den Gedanken, einen solchen Brief zu schreiben, hinrichten lassen.«
Darauf erwiderte ich nichts.
»Er hat ihn sogar unterschrieben. Was für ein Narr, was für ein armer, verrückter, verblendeter Narr!«