Das Mädchen ging auf den Sklaven zu.
Sie näherte sich ihm mit schnellen, kleinen Schritten und gesenktem Kopf, die Hände an den Seiten, die Handflächen nach hinten. In seiner Nähe hob sie den Kopf ein Stück, wagte es aber kaum, seinen Blick zu erwidern, sie kniete vor ihm nieder, wie vor einem Herrn, und erwies ihm ihren Gehorsam, indem sie die Stirn zwischen seinen goldenen Sandalen auf das Pflaster legte und die Handflächen folgen ließ, die sie zu beiden Seiten des Kopfes auf den Boden drückte. Das war natürlich keineswegs ungehörig; obwohl sie beide den Sklavenstatus hatten, war sie doch eine Frau und er ein Mann, also konnte man ihre Gehorsamsgeste, die in diesem Augenblick zwischen Sklaven erfolgte, einfach als die zwischen Frauen und Männern ansehen.
Dann sah Lavinia zu ihm auf, mit Tränen in den Augen. Von seiner Reaktion glaubte ich ablesen zu können, daß er sie in diesem Moment deutlich erkannte, sich an sie von ihrer Gefangennahme im Metellanischen Bezirk erinnerte, als er sie, die freie Frau, als Verführungssklave für seinen Herrn Appanius in die Falle gelockt hatte. Er machte ein verblüfftes Gesicht. Ich weiß nicht, ob es daran lag, daß er sie so unerwartet in ihrem Kragen wiedersah, oder ob seine Verblüffung eher darin begründet lag, daß er die unglaubliche Verwandlung erkannte, durch die die freie Frau, die er gefangen genommen hatte, nun in ihrem Sklavinnentum so erstaunlich faszinierend und wunderschön geworden war. Vielleicht war es von beidem etwas.
Lavinia richtete sich wieder auf und zog mit bebenden Lippen den Brief unter der Tunika hervor, wo sie ihn in der Nähe ihres Herzens aufbewahrt hatte, und streckte ihn Milo entgegen.
Die beiden Begleiter hatten sich das in aller Ruhe angesehen, aber jetzt, da die Staatssklavin dem Schauspieler etwas geben wollte, setzte sich einer von ihnen in Bewegung, um ihr den Brief abzunehmen, aber Lavinia packte ihn mit ihrer kleinen Faust, drückte ihn an den Körper und schüttelte entschieden den Kopf. Der Brief war offensichtlich nur für den Sklaven bestimmt.
Der Mann versuchte es erneut, aber sie rutschte zurück, legte wieder die Stirn auf den Boden, als wollte sie die Demutshaltung einnehmen, und hielt das Stück Papier unter ihrem Körper verborgen. »Nein, Herr!« sagte sie. »Es tut mir leid, Herr!«
»Miststück!« rief der Mann und versetzte ihr einen Tritt.
»Warte«, mischte sich sein Gefährte ein. »Hat man dir einen genauen Befehl gegeben?« fragte er Lavinia.
»Ja, Herr!« erwiderte sie. »Ich darf den Brief nur einer Person aushändigen, nur ihr allein!«
»Also gut«, sagte der Mann.
Lavinia stand dankbar auf, ging zu dem Sklaven und kniete vor ihm nieder. Wie anmutig sie vor ihm auf die Knie ging! Wie gut sie zu seinen Füßen aussah, auch wenn er nur ein Sklave war! Sie reichte ihm den Brief, den sie mit beiden Händen hielt, während sie dabei den Kopf senkte, bot ihn ihm an, wie eine Sklavin ihrem Herrn Wein reicht. Milo schien dieser Anblick vollkommener Schönheit richtiggehend zu erschüttern. Ich vermute, daß nie zuvor eine solche Frau auf diese Weise vor ihm gekniet hatte. In diesem Augenblick erahnte er vermutlich zum erstenmal die Macht und die Vollkommenheit, die in der Herrschaft lag.
Ich sah zu, wie Lavinia ihm den Brief gab. Es war beinahe so, als wäre es ihr Brief, den sie ihm flehentlich um ihrer selbst willen darbot, und nicht die vermeintlichen Zeilen einer anderen, die sie nur als Kurierin überbrachte. Ihr Benehmen überraschte mich. Außerdem beeindruckte es mich. Mir war noch gar nicht aufgefallen, daß sie so schön war.
»Du hast deinen Brief abgegeben, Miststück!« knurrte der eine Mann ärgerlich. »Verschwinde!«
»Ja, Herr!«
Er holte wütend mit der Hand aus, als wollte er sie schlagen. Lavinia stolperte nun alles andere als anmutig auf die Füße und lief an mir vorbei die Straße entlang.
»Sie ist hübsch«, sagte der Mann, der sie befragt hatte, und sah ihr hinterher.
»Aber sie ist nur eine Frau!« sagte sein Gefährte, der sie bedroht hatte.
»Und eine Sklavin.«
»Ja.«
Milo, der mitten auf der Straße im Licht und Schatten des Spaliers stand, sah ihr versonnen nach. In der Hand hielt er den Brief, an dem er anscheinend alles Interesse verloren hatte. Offenbar konnte er den Blick nicht von der forteilenden Gestalt Lavinias abwenden. War es möglich, daß sie ihn interessierte, und zwar auf die natürlichste Weise, in der ein Mann eine Frau interessant findet – nämlich in sexueller Hinsicht? Damit hatte ich gar nicht gerechnet. Ich ging davon aus, daß so etwas keine Auswirkung auf meinen Plan haben würde.
»Lies den Brief«, befahl einer der Männer.
Abwesend, so als wäre er sich außer der immer kleiner werdenden Gestalt der Sklavin seiner Umgebung nicht mehr bewußt, entfaltete er das Blatt Papier. Anscheinend konnte er lesen. Darauf hatte ich mich verlassen. Er war ein hochrangiger Sklave. Außerdem wäre es ihm sonst wohl schwergefallen, seine Rollentexte zu lernen.
»Was steht drin?« fragte der eine Begleiter.
Der Sklave drückte den Brief an den Leib. »Es ist privat«, antwortete er, »und ich fürchte auch persönlich.«
»Laß mich sehen«, beharrte der Begleiter.
»Es ist besser, wenn nur Appanius und ich das zu Gesicht bekommen«, sagte Milo. Er sah regelrecht erschüttert aus.
»Gut, wie du willst«, sagte der Begleiter und trat einen Schritt zurück. Milos’ Reaktion hatte ihm wohl verraten, daß die Angelegenheit zu ernst war, um jedermann anzugehen.
»Ist es wichtig?« fragte der andere Begleiter.
»Ich furchte ja.«
»Dann laß uns zum Haus zurückkehren.«
Sie gingen weiter und begaben sich, nachdem sie das Spalier hinter sich gelassen hatten, auf die rechte Straßenseite, wo es nun, am späten Nachmittag, wesentlich schattiger war. Normalerweise benutzen die Goreaner lieber die linke Straßenseite, da die meisten Männer Rechtshänder sind. So befindet sich der Schwertarm immer auf der Seite der entgegenkommenden Fremden.
Ich sah ihnen nach. Tatsächlich war ich nicht einmal hundertprozentig davon überzeugt gewesen, daß der Sklave Appanius den Brief auch zeigen würde, andererseits bestand dafür jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit, vor allem jetzt, da er ihn unter Zeugen entgegengenommen hatte, womit ich nicht hatte rechnen können. Meine Pläne erforderten natürlich nicht, daß Appanius über den Brief Bescheid wußte. Obwohl er darin eine große Rolle spielte. Der Brief konnte jedoch seinen Zweck erfüllen, auch ohne daß er ihn kannte.
Ich ging nach Westen.
Ein paar Ehn später hatte ich unseren Treffpunkt auf der Straße von Verrick erreicht. Ich stellte mich neben einen Hauseingang und wartete. Lavinia würde sich hüten, in der Gegend herumzulungern, da dies Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte. Sie sollte mehrmals an dieser Stelle vorbeigehen. Und da kam sie auch schon.
Wie schön sie gewesen, wie verführerisch sie nun war.
»Herr«, sagte sie.
»Hier hinein.« Ich zeigte auf den Eingang.
Sie trat in den Eingang, der Sie allen Blicken entzog. »Ich habe den Brief überbracht«, sagte sie.
»Ich weiß.«
»Du hast zugesehen?«
»Ja.«
Sie blickte zu Boden.
»Hab keine Angst«, sagte ich. »Es war alles in Ordnung. Du bist eine Sklavin.«
»Ja, Herr«, erwiderte sie überrascht, als wäre es ihr erst jetzt aufgefallen. »Und es gefällt mir.«
»Du hast deine Arbeit sehr gut gemacht«, sagte ich. »Ich bin zufrieden mit dir.«
»Vielen Dank, Herr.«
Ich legte ihr den Umhang um die Schultern. »Wir kehren zum insula zurück. Du darfst vorausgehen.«
Lavinia lächelte. »Ja, Herr«, sagte sie.
21
»Der Heimstein von Ar-Station gehört mit Tharlarionmist eingeschmiert!« rief der wohlbeleibte Bursche lautstark. »Man sollte Urtsabber darüber ausgießen!« Er nahm den Heimstein von seinem Platz auf dem Brett hoch, das im Park des Zentralzylinders quer über zwei Exkrementefässern lag., »Nicht einmal Steinjards würden ihn fressen!«