»Ar schwebt in großer Gefahr.«
»Wir müssen auf die Priesterkönige vertrauen!«
»Ja, genau!«
»Ich kann mich an eine Zeit erinnern«, sagte der erste Sprecher, der Arer, »da haben wir auf unseren Stahl vertraut.«
Ich ging weiter.
»Ai!« rief ein Mann ein paar Meter entfernt und rutschte von dem gefüllten Weinschlauch hinunter. Er würde weder den Schlauch noch seinen Inhalt gewinnen. Es gab viel Gelächter.
»Der nächste!« rief der Besitzer des Schlauchs. »Der nächste!« Bei einem Einsatz von einem Tarskstück hatte er bestimmt schon mehr Geld verdient, als Schlauch und Wein kosteten.
Ich fragte mich, ob es mir gelingen würde, auf dem Schlauch zu balancieren. Wie gesagt, es ist nicht einfach.
Der nächste versuchte sich an der Aufgabe, lag aber schon im nächsten Augenblick im Staub auf dem Rücken. Wieder erscholl vergnügtes Gelächter.
»Ein ausgezeichneter Versuch!« rief der Besitzer des Weinschlauches. »Möchtest du es noch einmal versuchen?«
»Nein«, sagte der Verlierer.
»Wir halten dich auch fest, während du hinaufsteigst«, bot der Besitzer an.
Aber der Mann winkte gutmütig ab und ging.
»Ein Tarskstück!« rief der Besitzer. »Nur ein Tarskstück! Gewinnt den Wein, den besten Ka-la-na, einen ganzen Schlauch, das ist genug für euer ganzes Dorf.«
»Ich versuche es«, sagte einer der Bauern entschlossen.
Ich gesellte mich zu dem Kreis der Zuschauer.
Man half dem Herausforderer auf den Schlauch hinauf. Aber schon eine Ihn später stürzte er zu Boden. Das Publikum schlug sich auf die Schenkel und brüllte vor Lachen.
»Wo ist jetzt der Wein?« rief einer seiner Freunde.
Weiteres Gelächter erscholl.
Mir ging durch den Kopf, wie seltsam es doch war, daß diese Menschen, die so wenig besaßen und in tödlicher Gefahr geschwebt hätten, wäre da nicht die Armee von Ar gewesen, die sich zwischen Cos und die Stadt stellte, so ausgelassen sein konnten.
Ich sah dem nächsten zu, dem man auf den Schlauch half.
Vermutlich hätte ich mittlerweile ohne weiteres ins Zelt zurückkehren können. Es war schon spät, und vermutlich waren Marcus und Phoebe längst eingeschlafen. Gewöhnlich ließ Marcus sie zu seinen Füßen schlafen – in diesem Fall wären ihre Fußgelenke überkreuzt und aneinandergekettet – oder an seiner Hüfte, dann trüge sie eine kurze Halskette, die an seinem Gürtel festgemacht war. Läßt man ein Mädchen auf diese Weise schlafen, hat das den Vorteil ihrer leichten Verfügbarkeit. Allerdings waren diese Vorkehrungen, falls sie ihre Flucht verhindern sollten, meiner Meinung nach völlig unnötig. Phoebe verbanden mit ihrem Herrn Bande, gegen die das stabilste, aus den stärksten, gröbsten Fasern geknüpfte Seil oder schwere, unzerstörbare Eisenketten so zerbrechlich wie Spinnenfäden waren. Sie liebte ihren Herrn innig und von ganzem Herzen. Und auch wenn er sich wegen seiner Schwäche Vorwürfe machte und gereizt, launisch und wütend war, war er doch vernarrt in seine schöne Sklavin.
Der Mann versuchte sich auf dem dicken, buckelnden Weinschlauch zu halten und rutschte herunter. Er war nicht schlecht gewesen. Beinahe hätte er den Wein gewonnen.
Applaus ertönte in dem kleinen Kreis.
Ganz in der Nähe pries ein Mann unüberhörbar den Stand eines Gedankenlesers an. Dieser Gedankenleser las vermutlich Münzen. Ein Zuschauer, der als Kandidat mitmacht, wählt aus einer Anzahl von Münzen, die auf einem Teller oder Tablett ausgebreitet liegen und vorher eingesetzt werden – für gewöhnlich Tarskstücke –, vorgeblich ohne Wissen des Gedankenlesers oder seines Vertrauten ein Geldstück aus, nimmt es fest in die Hand und konzentriert sich darauf. Nachdem die Münze wieder zurückgelegt wurde, dreht sich der Gedankenleser um und sucht die betreffende Münze heraus, weitaus öfter, als nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung möglich wäre. Der Zuschauer verliert dann das Tarskstück. Wählt der Gedankenleser die falsche Münze aus, erhält der Spieler das Geld. Es muß ein Trick dabei sein, obwohl ich ihn nicht kenne. Meiner Meinung nach nehmen die Goreaner ziemlich unkritisch an, daß der Gedankenleser tatsächlich Gedanken lesen kann.
Ihre Argumentation lautete wie folgt: Es ist eine Tatsache, daß ein Mann weiter in die Ferne sehen kann als ein anderer. Warum sollte es dann nicht auch möglich sein, daß jemand Gedanken ›lesen‹ kann? Einige Goreaner glauben auch an Magie, da sie im Gegensatz zu einem irdischen Publikum weniger mit Zauberkunststückchen, Taschenspielereien oder Illusionen vertraut sind. Ich habe Goreaner kennengelernt, die zum Beispiel tatsächlich glaubten, daß ein Zauberer ein Mädchen verschwinden lassen und sie dann aus dem Nichts wieder herbeizaubern könne. Sie vertrauen blindlings ihren Sinnen. Das Befragen eines Orakels vor dem Beginn von Feldzügen, Geschäftsunternehmungen und dergleichen mehr ist auf Gor weit verbreitet. Viele Goreaner machen sich Gedanken wegen solcher Dinge wie den Spuren von Spinnenbeinen oder dem Vogelflug. In unsicheren, schwierigen Zeiten gibt es wie auch auf der Erde auf Gor eine Kundschaft für Leute, die behaupten, die Zukunft vorhersagen zu können.
»Edler Bürger!« rief der Besitzer des Weinschlauchs. »Was ist mit dir?«
Ich sah ihn überrascht an.
»Ein Tarskstück, eine Gelegenheit zu gewinnen!« lud er mich ein. »Denk nur an den Weinschlauch, für dich und deine Freunde!«
Ein Weinschlauch würde mindestens vier oder fünf Kupfertarsk einbringen.
»Also gut«, sagte ich.
Die Zuschauer nickten und gaben ihren Beifall kund. »Ein guter Mann«, sagte mehr als nur einer von ihnen.
»Du willst doch bestimmt nicht deine Sandalen anbehalten«, sagte der Besitzer.
»Natürlich nicht.« Ich streifte sie mir von den Füßen. Dann rieb ich die Füße fest durch den Staub.
»Laß dir hinaufhelfen«, sagte der Mann.
»Das ist nicht nötig«, erwiderte ich.
»Komm schon, ich helfe dir.«
»Also gut«, sagte ich. Es war mir nicht gelungen, auf den Schlauch zu steigen.
»Bist du bereit?« fragte der Besitzer und stützte mich.
»Ja«, sagte ich zögernd. Ich wünschte, Lecchio aus der Truppe von Boots Tarskstück wäre hiergewesen. Er hätte es mit Leichtigkeit geschafft.
»Bereit?«
»Ja!«
»Die Zeit läuft!« rief der Mann und ließ los. »Wie gut du das kannst!« rief er dann genau in dem Augenblick, in dem ich auch schon von dem Schlauch rutschte. Ich landete lachend auf dem Boden. »Das hat er gut gemacht!« sagte ein Zuschauer. »War er überhaupt schon drauf?« fragte ein anderer Mann, der anscheinend gewettet hatte. »Er ist schon heruntergerutscht«, wurde er belehrt. »Er hat sich gut gehalten, er muß mindestens zwei Ihn dort oben gewesen sein.« Ich war der Meinung, daß es schon etwas länger gewesen war. Oben auf dem Schlauch erschien eine Ihn wie eine Ehn.
»Wer ist der nächste?« fragte der Besitzer in die Runde.
Ich sah mich um und suchte meine Sandalen. Ich hielt sie gerade in der Hand, als mir eine gewisse Stille auffiel; die Männer blickten alle in eine Richtung. Ich folgte ihrem Blick. Dort, am Rand des Kreises, trat ein bärtiger großer Mann aus der Dunkelheit, der mit Tunika und Umhang bekleidet war. Ich hielt ihn für einen Bauern. Er blickte sich um, aber auf eine Weise, als sehe er nichts von Bedeutung.
»Möchtest du dein Glück versuchen?« fragte der Besitzer des Weinschlauchs. Es freute mich, daß er den Fremden angesprochen hatte.
Der Neuankömmling trat langsam und zögernd vor, als käme er von weither.
»Man muß auf dem Schlauch stehen«, sagte der Besitzer. »Es kostet ein Tarskstück.«
Der Bärtige stellte sich vor den Besitzer, der im Vergleich klein erschien, und blickte auf ihn hinunter. Der Besitzer zitterte leicht. Dann drückte der Bärtige ihm ein Tarskstück in die Hand.
»Man muß auf dem Schlauch stehen«, sagte der Besitzer erneut unsicher.
Der große Mann sah ihn nur an.
»Vielleicht wirst du ja gewinnen«, sagte der Besitzer. Dann rief er: »Was tust du da?«
Niemand machte Anstalten, den großen Mann aufzuhalten, der seinen Umhang zurückschlug, ein Messer aus der Scheide am Gürtel zog und dann ganz langsam und bedächtig den Schlauch aufschnitt. Wein schoß aus der Öffnung, spritzte über die Knöchel des großen Mannes und rann in breiten Bahnen über den Boden. Der Staub war jetzt rot. Es sah fast wie Blut aus.