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»Ach ja!« stieß sie hervor.

»Vor allem wenn deine Besorgnis immer größer wird, wenn du spürst, wie Ar dir entgleitet und deine Macht um dich herum zusammenbricht.«

»Du bist ja verrückt! Ich bin die Ubara von Ar!«

»Nein«, sagte ich. »Du bist eine Sklavin.« Dann erhob ich mich, nahm den Knebel vom Boden und stieß in ihr in den Mund.

»Morgen werden Wächter kommen und dich von den Ketten befreien. Sie werden dich in den Zentralzylinder zurückbringen. Aber du darfst nicht vergessen, daß du meine Sklavin bist. So wie du nicht vergessen darfst, daß ich dich holen werde. Wann das sein wird? Du wirst es nicht wissen. Wirst du dich fürchten, einen Raum allein zu betreten, aus Angst, dort könnte jemand auf dich warten? Wirst du dich vor dunklen Orten oder Schatten fürchten? Wirst du Dächer oder hohe Brücken fürchten, aus Angst, die Schlinge eines Tarnsmannes könnte sich um deinen Körper legen und dich in den Himmel zerren? Wirst du dich fürchten, ein Bad zu betreten, aus Angst, du könntest dort überrascht werden? Wirst du Angst haben einzuschlafen, in dem Wissen, daß jemand in der Nacht kommen könnte, daß du plötzlich mit einem Knebel im Mund und hilflos aufwachst?«

Ich sah sie an. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie sah gut in den Ketten aus. Sie war eine hübsche Sklavin.

»Laß uns gehen«, sagte ich zu Marcus.

Wir verließen das Zimmer.

26

Ich lag in dem kleinen Raum im insula von Torbon im Metellanischen Bezirk am Boden.

Die Stadt draußen war ruhig.

Ich blickte in der Dunkelheit zur Decke.

Es mußte ungefähr die zwanzigste Ahn sein. Mittlerweile hatten Milo und Lavinia die Stadt bestimmt schon verlassen. Boots Tarskstück und seine Truppe befanden sich vermutlich auf der Viktel Aria auf dem Weg nach Norden. Irgendwo zwischen ihren Besitztümern verborgen lag ein seltsamer Gegenstand, ein Stein. Ein zufälliger Blick würde über ihn hinweggehen. Und doch unterschied er sich von allen anderen Steinen; er war etwas Besonderes.

Die Heimsteine von Gor machten mich nachdenklich. Die meisten sahen klein und unscheinbar aus. Und doch waren wegen dieser Steine, dieser auf den ersten Blick unscheinbaren, einfachen Steine, Städte erbaut und niedergebrannt worden, hatten Armeen gekämpft, starke Männern geweint und waren Reiche aufgestiegen und wieder untergegangen.

Die Schlichtheit vieler dieser Steine hat mich schon oft überrascht. Warum haben sie eine solche Bedeutung erlangt? Die – etwas simple – Vermutung liegt nahe, daß sie verschiedene Dinge symbolisieren, für verschiedene Menschen möglicherweise sogar verschiedene Dinge. Sie können für eine Stadt stehen und werden auch tatsächlich manchmal mit einer Stadt gleichgesetzt. Sie haben etwas mit Territorialität und Gemeinschaft zu tun. Sogar eine einfache Hütte, die weitab von den gepflasterten Straßen einer Stadt oder eines Dorfes steht, kann über einen eigenen Heimstein verfügen, und dort ist der niedrigste Bettler oder der ärmste Bauer ein Ubar. Der Heimstein verkündet, dieser Ort gehört mir, es ist mein Zuhause. Hier bin ich.

Aber ich glaube, manchmal ist es auch ein Fehler, die Bedeutung des Heimsteins ergründen zu wollen. Es gibt keine Worte dafür. Er ist wie ein Baum oder wie die Welt. Er ist einfach, was er ist, was weit über jede Erklärung hinausgeht.

Auf der einfachsten, primitivsten Ebene ist der Heimstein einfach nur der Heimstein.

Er ist zu wichtig und kostbar, um eine Bedeutung zu haben. Und indem er keine Bedeutung hat, wird er natürlich zum bedeutsamsten Ding von allen.

Man darf keinen Goreaner nach der Bedeutung seines Heimsteins fragen, weil er diese Frage nicht verstehen wird. Sie wird ihn lediglich verwirren. Er ist eben der Heimstein, das ist alles. Manchmal glaube ich, viele Heimsteine sind so unscheinbar, weil sie viel zu wichtig und zu kostbar sind, als daß man sie mit Verzierungen und dergleichen beleidigen dürfte. Man beläßt sie so, weil man auf diese Weise ausdrückt, daß alles wichtig und kostbar und wunderschön ist, die kleinen Kiesel am Fluß, die Blätter eines Baumes, die Fährten kleiner Tiere, ein Grashalm, ein Wassertropfen, ein Sandkorn. Die Welt. Das Wort Gor heißt übersetzt Heimstein. Der Name der Goreaner für unsere gemeinsame Sonne ist ›Tor-tu-Gor‹, was ›Licht auf dem Heimstein‹ bedeutet.

Draußen ratterte ein Wagen vorbei. Ich hörte das Schnauben eines Tharlarions. Mittlerweile fuhren weniger Wagen. Sie waren nicht mehr erforderlich. Ar war so gut wie ausgeplündert, seines Goldes und Silbers beraubt, seiner Kostbarkeiten, sogar der meisten seiner Frauen und Sklaven. Bei dem Wagen handelte es sich vermutlich um einen Kurier, auf jeden Fall um jemanden mit einer offiziellen Erlaubnis. Die Ausgangssperre war in Kraft.

Ich dachte an eine Sklavin. Diese Nacht würde eine sehr unerfreuliche Nacht für sie sein. Ich hatte bereits dafür gesorgt, daß morgen nach der zehnten Ahn ein Kurier eine versiegelte Botschaft im Zentralzylinder ablieferte. Ich fragte mich, ob man sie bereits vermißte. Schon möglich. Und wenn nicht, dann bestimmt am frühen Morgen, wenn ihre Dienerinnen zum Ankleiden und für ihr Bad kämen. Welch hektisches Treiben würde dann im Zentralzylinder ausbrechen! Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie Seremides überall hineinstürmte, Untergebene schlug, seinen Stab beleidigte, seine Offiziere und ganz Ar bedrohte, Möbelstücke umstieß, Wandteppiche herunterriß. Wie er die Feder ergriff, sie wieder niederlegte, Tinte verschüttete, Befehle brüllte, sie widerrief, sie erneut erteilte und verlangte, daß kein Wort darüber in Myrons Lager drang, noch nicht, nicht zu diesem Zeitpunkt. Wie begierig würden sie sich auf jede Spur stürzen. Wie verzweifelt würden sie die Nachricht empfangen, die den Aufenthaltsort der Ubara verriet. Ich sah bildlich vor mir, wie sie an den Ort eilten und die Frau, die sie für ihre Ubara hielten, dort in Ketten vorfanden, als wäre sie eine gewöhnliche Sklavin.

O ja, wie würden sie sich über ihre Entdeckung freuen und sich beeilen, ihre Blößen zu bedecken, und nach einem Schmied schicken, der die peinlichen Fesseln abnähme. Dann würden sie sie verstohlen zum Zentralzylinder zurückschaffen, damit niemand erfuhr, was sich zugetragen hatte. Und eine oder zwei Ahn später säße sie wieder auf dem Thron der Ubara.

Ich fragte mich, ob sie dann wohl Unbehagen oder vielleicht sogar Angst verspürte, ob sie die Torheit begriff, in die sie nun verstrickt war, daß sie es wagte, sich dem Thronpodest zu nähern, und zwar nicht, um sich als halbnackte, in Ketten gelegte Sklavin zu Füßen des Ubars zu legen, sondern um auf dem Thron Platz zu nehmen. Sie mußte sich doch der Anmaßung dieser Handlung bewußt sein oder der schrecklichen Gefahr, in der sie schwebte. Man wagte es kaum, sich die Strafe auch nur vorzustellen, die auf eine solche Tat stand, war sie doch nur eine Sklavin. Sie mußte unter allen Umständen ihre Versklavung geheimhalten, in dem vollen Bewußtsein, daß jemand in Ar ihr Geheimnis kannte, daß jemand sogar Zugang zu den Dokumenten hatte, die den dafür nötigen Beweis erbringen konnten.

Draußen auf der Straße rief jemand: »Halt! Stehenbleiben!« vermutlich ein Wächter. Es folgte das Trappeln rennender Füße. Mittlerweile absolvierten die Wächter im Metellanischen Bezirk ihre Runden nur noch zu zweit, wie in ganz Ar. Vermutlich hatten sie einen Mann entdeckt, der die Ausgangssperre verletzte.

Nein, die Sklavin würde die Nacht alles andere als bequem verbringen, nackt auf dem harten Steinboden liegend, die Handgelenke eng an die Knöchel gefesselt, von der an dem Bodenring befestigten Halskette an Ort und Stelle gehalten. Es dürfte eine Abwechslung im Gegensatz zum Komfort des Ubara-Lagers sein. Aber ich glaubte nicht, daß es ihr schaden würde, ganz im Gegenteil.

Ich blickte zur Decke.

Ich glaubte nicht, daß sie die erste Nacht in meinem Besitz jemals vergessen würde.