Wie ich ebenfalls gehört hatte, waren einige Männer von den Wächtern außerhalb der Stadt zurückgeschickt worden. Das war nur schwer nachvollziehbar. Aber wie dem auch sein mochte, die meisten Bewohner – auf jeden Fall der größte Teil der Bevölkerung – hatten keine wie auch immer geartete Möglichkeit, die Stadt zu verlassen, es sei denn zu Fuß. Und selbst in diesem Fall hätten die meisten keinen Ort gewußt, an den sie hätten flüchten oder wo sie gar hätten bleiben können. Wer wußte schon, welche Gefahren außerhalb der Stadtmauern lauerten? Darüber hinaus konnte man jederzeit von Tharlarionkavallerie oder cosischen Tarnsmännern überholt werden.
Die Bürger von Ar waren in ihrer Stadt gefangen. Es kursierten Gerüchte, man werde bald die Stadttore schließen und sie sogar versiegeln, um sie gegen Belagerungsmaschinen zu verstärken. Natürlich wurde auch viel darüber geredet, die Stadt zu verteidigen.
Aus diesem Grund hatte ich übrigens am Morgen die Stadt betreten, um mein Schwert, ein kleines Stück Söldnerstahl, zu ihrer Verteidigung zur Verfügung zu stellen. Sicher, diese Sache war mit ziemlicher Sicherheit zum Scheitern verurteilt. Ich zweifelte nicht daran, daß die Männer Ars mit der richtigen Führung einen energischen und wilden Widerstand leisten würden, aber im Gegensatz zu vielen anderen – darunter übrigens auch Marcus – hatte ich eine gewisse Vorstellung von der Arithmetik des Krieges.
Zog man die Stärke der sich gegenüberstehenden Einheiten, die Vergleichbarkeit der Waffen, die Fähigkeit der Befehlshaber und dergleichen in Betracht, war Ar bei jedem gewöhnlichen Kampf zum Untergang verurteilt. Die cosische Armee stellte das größte Heer dar, das jemals auf Gor ins Feld geführt worden war und das jetzt, nach dem Fall von Ar-Station, von zahllosen Einheiten noch verstärkt wurde. Außerdem hatte Cos den ganzen Winter lang Zeit gehabt, sein Belagerungsgerät zu vervollständigen, nachdem Dietrich von Tarnburg das ursprüngliche Material in Brand gesteckt hatte.
Wegen der kürzlichen Erfolge im Feld konnte Cos nun auf Tausende von Quadratpasang für seine logistische Unterstützung zurückgreifen. Darüber hinaus waren die Kommunikationslinien vom Palast in Telnus auf Cos zum Zelt Myrons, des Polemarkos, schnell und verläßlich. Ich bezweifelte, daß Ar länger als einige Wochen standhalten konnte, selbst unter der Führung von Marlenus. Und dann mußte man noch den in Ar stattfindenden Verrat mit in die traurige Rechnung einbeziehen. Ar war zum Untergang verdammt, davon war ich überzeugt.
»Seht!« sagte ein Mann und zeigte in den Himmel. »Tarnsmänner!« Sofort riefen alle wild durcheinander.
»Sie sind in Blau gekleidet!«
»Cosische Tarnsmänner über der Stadt!«
»Der Tarndraht wird uns beschützen!«
»Wo sind unsere Männer?«
»Die können nicht überall sein.«
Das Auftauchen cosischer Tarnsmänner über Ar war ein deutlicher Hinweis, daß Cos nun den Himmel beherrschte.
»Der Tarndraht wird uns beschützen.«
»Draht kann man zerschneiden.«
»Man darf keinem erlauben, jemals wieder Ar-Stations Heimstein zu schänden!« sagte Marcus.
»Komm hier weg«, sagte ich und zog ihn von den Männern fort. Der Heimstein von Ar-Station, der offen auf dem auf den Terracottafässern ruhenden Brett lag, wurde von mindestens zehn Wächtern beschützt, außerdem befanden sich etwa hundert Männer in unmittelbarer Nähe.
»Ich halte es für unmöglich, daß es dir zu diesem Zeitpunkt gelingt, den Heimstein mit Gewalt an dich zu bringen«, sagte ich. »Selbst wenn du dir einen Weg zu ihm bahnst, kommst du kaum weiter als ein paar Schritte, bevor dich ein Speer oder eine Klinge niederstreckt.«
»Ich kann bei dem Versuch sterben, ihn zu retten«, erwiderte er grimmig.
»Ja, ich schätze, das könntest du«, sagte ich, »und vermutlich ohne große Mühe, aber du willst ihn doch retten und nicht bei einem Rettungsversuch sterben. Jetzt ist nicht die Zeit zum Zuschlagen.«
Er blickte mich wütend an.
»Du magst viele Qualitäten eines Kriegers haben, aber eine mußt du noch lernen. Geduld.«
»Es ist nicht dein Heimstein.«
»Und genau das ist vermutlich auch der Grund, warum es mir leichter fällt, diese Angelegenheit gleichmütiger als du zu betrachten.«
»Der Stein könnte weggebracht oder versteckt werden.«
»Das ist eine Möglichkeit.«
»Wir müssen jetzt zuschlagen«, sagte er.
»Wir müssen warten.«
»Ich will nicht warten.«
»Ich habe eine Idee«, sagte ich. Sie war mir gekommen, als ich den Stein und die Aufstellung der Wächter betrachtet hatte.
»Eine Idee?«
»Sie dürfte dir nicht gefallen«, sagte ich, »da sie nichts mit einem blutigen Frontalangriff zu tun hat.«
»Wie lautet sie?«
»Es ist eigentlich nur eine Möglichkeit«, sagte ich. »Reden wir später darüber.«
Ich wandte mich in Richtung der Straße der Wagen, und Marcus schloß sich mir zögernd an.
»Unsere Aufenthaltserlaubnis für die Stadt endet bei Sonnenuntergang«, sagte er. »Und das Lager vor der Stadtmauer ist größtenteils verlassen. Heute nacht könnten cosische Späher und Flankier an der Stadtmauer sein. Die Tore werden geschlossen sein, wir werden draußen sein. Möglicherweise gelingt es uns nicht einmal mehr, in die Stadt hineinzukommen.«
»Ich habe die Absicht, in der Stadt zu bleiben«, antwortete ich. »Ich will ihr mein Schwert zur Verfügung stellen.«
»Du schuldest Ar gar nichts«, sagte er.
»Das stimmt.«
»Ar ist verloren.«
»Vielleicht.«
»Warum willst du dann also hierbleiben?«
»Ich habe meine Gründe.«
»Sollen wir darüber diskutieren, wie sinnvoll diese Gründe sind – von einem objektiven Standpunkt aus betrachtet?«
»Bestimmt nicht«, sagte ich.
»Das habe ich mir gedacht.«
Wir reichten uns die Hand und gingen weiter, um Phoebe zu holen.
5
»Wolltest du heute nacht nicht gemütlich in Ar schlafen?« fragte Marcus, der sich neben mir die Decke enger um die Schultern zog; Phoebe hatte sich ebenfalls in eine Decke gehüllt, damit sie nicht in die Dunkelheit und Kälte vor dem Sonnentor hinaussehen mußte, vor dem sich etwa dreihundert Menschen versammelt hatten.
»Es gab keine Rekrutierungstische«, mußte ich zugeben.
»Man wollte also deinen Schwertarm nicht haben«, stellte er fest.
»Nein.«
»Was immer das zu bedeuten haben mag.«
»Sie haben nach meiner Passiermarke gefragt und mich darauf hingewiesen, daß ich nach Sonnenuntergang nichts mehr in der Stadt zu suchen hätte.«
»Vielleicht nimmt ja Cos Leute in seine Dienste«, mischte sich ein in der Nähe sitzender Mann ein.
»Die haben genug«, gab ein anderer seinen Kommentar ab.
Das war sicher richtig.
»Ist schon komisch«, sagte Marcus. »Es hätte mich nicht einmal gewundert, wenn sie die Sklaven befreien und bewaffnen.«
Ich zückte mit den Schultern.
»Andererseits gibt es in der Stadt vermutlich nicht allzu viele Sklaven, die man als Kämpfer gebrauchen könnte.«
»Vermutlich nicht.« Man konnte davon ausgehen, daß es in der Stadt keine große Anzahl von gefährlichen, kräftigen Sklaven gab, wie man sie auf Galeeren, in Steinbrüchen oder den großen Landkommunen vorfindet. In großer Menge hätten sie gefährlich werden können. Die meisten Sklaven der Stadt waren verhätschelte Seidensklaven, die goreanischen Frauen gehörten, die sich noch nicht zu ihrem Geschlecht bekannt hatten. Solche Sklaven werden bei einer Gefangennahme wie Sklavinnen zusammengetrieben – falls man sie nicht an Ort und Stelle erschlägt –, in Ketten gelegt und auf den Märkten verkauft. Natürlich gab es in Ar auch ein paar kräftige Sklaven. Viele der Burschen, die sich um die großen Exkrementefässer der insulae kümmerten, waren Sklaven. Normalerweise arbeiteten sie unter der direkten oder indirekten Aufsicht freier Männer. Gelegentlich spendierte man ihnen einen Dram oder Paga oder stellte ihnen für den Abend ein Kesselmädchen zur Verfügung.