David kam pünktlich genau um sieben Uhr und war überhaupt nicht überrascht, die anderen schon alle vorzufinden. Er hatte gar nichts anderes erwartet, als daß sie versuchten, ihn zu betrügen.
„Wir haben schon Überall gesucht", sagte der Anwalt, „aber nichts gefunden."
„Vielleicht kann man es nur nachts entdecken", gab David zu bedenken.
„Aber das ist doch lachhaft!" wandte die Witwe ein. „Außerdem habe ich keine Lust, die ganze Nacht hier in dieser alten Bruchbude zu verbringen."
„Es bleibt Ihnen aber nichts anderes übrig, wenn Sie Ihren Anteil bekommen wollen."
„Ja, ja, schon gut." Unwillig setzte sie sich.
Es wurde dunkel. „Ich habe Hunger", sagte der Neffe. „Ich gehe mir etwas zu essen holen."
„Das können Sie nicht", sagte der Anwalt. „Keiner darf das Haus vor dem Morgengrauen wieder verlassen."
Die Witwe war überhaupt nicht glücklich, daß sie die ganze Nacht über in diesem alten Haus bleiben sollte. Sie glaubte zwar nicht eine Minute lang an Gespenster, aber sie wollte zu Hause in ihrem eigenen komfortablen Bett mit den seidenen Laken schlafen. Sie liebte ihren Luxus.
„Das eine sage ich euch, beim ersten Morgengrauen bin ich weg", knirschte sie.
Es gab genau vier Schlafzimmer in dem alten Haus, so daß sie alle ein eigenes hatten. Die Witwe nahm selbstverständlich das größte für sich in Anspruch.
„Schließlich war ich es", sagte sie, „die mit Samuel Stone verheiratet war."
Sie gingen alle schlafen.
Die Witwe träumte davon, was sie mit dem ganzen Geld von ihrem Mann machen wollte. Sie fuhr auf einer riesigen Jacht durch die Südsee.
Der Anwalt träumte, er sitze in einer riesigen Kanzlei mit wertvollen antiken Möbeln.
Der Neffe träumte, daß er eine Villa in Südfrankreich besaß, wo er es sich gutgehen ließ und sich mit vielen hübschen Bikinimädchen die Zeit vertrieb.
Und David träumte davon, wie er Geld an die Armen und Obdachlosen verteilte.
Es begann um zwei Uhr morgens. Zuerst war es nur ein schwacher Laut, der durch das Haus ging. Dann wurde es immer lauter, bis es ein seltsames Trommeln wurde, zum Fürchten.
Alle erwachten sie gleichzeitig von dem Lärm.
Die Witwe setzte sich im Bett auf und dachte: Da muß jemand einen Fernseher angeschaltet haben.
Der Neffe setzte sich ebenfalls auf und dachte: Da feiern sie offenbar im Nachbarhaus eine Party. Vielleicht kann ich mitmachen.
Der Anwalt dachte: So einen Lärm zu machen, diese Nachbarsleute. Die Polizei sollte man holen. Und David dachte: Um Gottes willen, die Indianer sind da! Alle standen auf. Sie brauchten sich nicht erst anzuziehen, weil jeder in seinen Kleidern geschlafen hatte. Sie trafen sich oben auf dem Flur.
„Was geht hier vor?" fragte die Witwe.
„Nichts, worüber man sich beunruhigen müßte", begütigte der Neffe.
In diesem Moment hörten sie einen Schrei. „Was war das?" fragte der Neffe.
David antwortete: „Ich weiß auch nicht. Am besten sehen wir nach."
Er schaltete das Licht an. Aber nichts geschah. Es blieb finster. „Kein Strom da!" rief der Neffe.
„Das ist aber komisch", sagte David. „Vorhin war noch Strom da. Jemand muß ihn abgestellt haben."
Das Haus im Dunkeln war unheimlich. Ein kalter Wind wehte plötzlich durch den Flur, und alle fröstelten. Unten waren merkwürdige Geräusche zu hören. Als flatterten Fledermäuse umher.
„Das gefällt mir nicht"; sagte die Witwe. Sie zitterte. „Vielleicht sollten wir uns besser davonmachen." „Und den Schatz aufgeben?" sagte der Neffe. „Kommt nicht in Frage. Ich bleibe."
„Wir bleiben alle", erklärte der Anwalt.
Und David sagte: „Es gibt keinen Grund, vor irgend etwas Angst zu haben."
Aber in Wirklichkeit wurde ihnen allen allmählich zweierlei. Sie schlichen sich gemeinsam ängstlich die Treppe hinab, alle hinter David her, dem sie jetzt gern den Vortritt ließen. „Wenn wir wenigstens eine Taschenlampe hätten", sagte David.
In diesem Augenblick gingen alle Lichter an. Sie blieben überrascht stehen. „Na", sagte die Witwe, „da haben Strom." Aber da erlosch das Licht erneut.
Der Neffe sagte als erster etwas. „Da spielt einer mit dem Licht herum."
Daraufhin sagte die Witwe: „Das heißt, es ist noch jemand im Haus. Wir sind nicht allein!"
Da hallte ein gespenstischer Schrei durch das Haus. Und sie vernahmen eine Stimme: „Geht fort! Geht fort! Fort mit euch!" Die Witwe durchlief ein eisiger Schauder. „Nichts wie weg hier!" schrie sie.
„Bleiben Sie da!" sagte der Anwalt. „Die wollen uns nur angst machen."
„Und das schaffen sie auch", sagte die Witwe. „Ich habe Angst!"
Das Trommeln begann wieder, diesmal noch lauter. „Haben Sie eine Ahnung", fragte der Anwalt David, „warum es in diesem Haus angeblich spukt?"
„Ja", sagte David. „Vor vielen Jahren haben die Indianer hier an dieser Stelle ihre Toten beerdigt. Man erzählt sich, sie wollen nicht, daß die Grabesruhe ihrer Vorfahren gestört wird." „So?" sagte der Neffe. „Dann sind das also Indianertrommeln, und in dem Haus spuken alte Indianer? Die haben vermutlich Pfeil und Bogen und schießen damit auf uns." Alle drängten sich furchtsam um David. „Nun seid mal ein bißchen realistisch!" mahnte David. „Geister können keinem etwas antun."
Aber im selben Moment kam eine Lampe durch die Luft auf sie zugesaust und verfehlte sie nur knapp. „Hilfe!" schrie die Witwe.
„Bleibt alle eng zusammen!" kommandierte David. „Dann passiert nichts. Wir müssen diesen Schatz noch vor dem Morgengrauen finden."
„Ich glaube, ich bin gar nicht mehr so scharf darauf, ihn zu finden!" sagte die Witwe. „Ich will nur nach Hause. Es gefällt mir nicht, von toten Indianern angegriffen zu werden."
David war allerdings auch verwirrt. Irgend etwas stimmte nicht, aber er wußte nicht genau, was. Er hatte das Gefühl, daß jemand versuchte, sie vom Finden des Schatzes abzuhalten.
„Hier entlang", sagte er.
Und er führte sie durch die unteren Räume.
Direkt neben ihm knallte etwas an die Wand. Alle schrien unwillkürlich auf.
Der Anwalt sagte: „Das alles gefällt mir nicht. Vielleicht sollten wir wirklich weg hier."
„Auf keinen Fall!" sagte der' Neffe dickköpfig. Er erinnerte sich noch immer an seinen Traum, in dem er umringt von vielen schönen Mädchen in einer großen Villa war. David führte sie auf die Küche zu. „Wohin gehen wir?" fragte die Witwe.
„Das Trommeln scheint aus dem Keller zu kommen", sagte David. „Vielleicht sollten wir das mal näher erkunden." „Warum gehen Sie nicht erst mal allein voraus, und wir warten hier?" sagte die Witwe.
„O nein", protestierte der Neffe. „Wir bleiben alle zusammen. Sonst behält er den Schatz wieder allein für sich, wenn er ihn findet."
David sah, wie sehr sie alle Furcht hatten, und sie taten ihm leid.
„Ich sage euch was. Wenn ich den Schatz als erster finde, teile ich ihn auf jeden Fall mit euch. Na, wie ist das?"
Alle pflichteten ihm bei, daß dies eine gute Idee sei. Alles, was sie jetzt noch tun mußten, war, den Schatz zu finden, ohne von den toten Indianern umgebracht zu werden.
Sie näherten sich im Dunkeln der Küche. Und da hörten sie Laufschritte. Sie blieben wie angewurzelt stehen.
„Es ist tatsächlich jemand im Haus"! sagte der Neffe.
„Ja, das wissen wir nun schon", antwortete der Anwalt ungehalten. „Nämlich Geister."
Doch David glaubte nicht an Geister. „Kommt", sagte er. Sie gingen weiter auf die Küche zu und tasteten sich in der Finsternis vorsichtig voran. Die Küche war riesig. Sie konnten in dem bleichen Mondschein ihre Umrisse erkennen. Und auch eine Treppe hinunter in den Keller.
„Wir gehen doch nicht wirklich da runter?" fragte die Witwe. „Es bleibt uns nichts anderes übrig", sagte David, „wenn wir den Schatz finden wollen."