„Ich hoffe", sagte die Witwe, „der Hinweis ist diese Woche leichter als letztes Mal."
„Na ja, immerhin haben wir die Briefmarke aufgestöbert", sagte der Neffe.
Der Rechtsanwalt grummelte: „Ja, sicher, aber dann hat uns David gezwungen, sie zurückzugeben."
„Deshalb habt ihr aber jetzt auch alle ein sehr viel besseres Gewissen, das weiß ich", sagte David, „weil ihr das Richtige getan habt."
Tatsächlich hatten sie alle keineswegs ein besseres Gewissen und das Gefühl, das Richtige getan zu haben.
Sie fühlten sich vielmehr alle ärmer als zuvor. Der Butler kam und hatte das neue Videoband bei sich.
„Sind Sie bereit?" fragte er.
„Ja."
„Gut."
Er legte die Videokassette ein und stellte den Fernseher an. Samuel Stones Kopf erschien ein weiteres Mal auf dem Bildschirm.
„Guten Morgen", sagte er. „Ich nehme an, es geht euch allen gut. Heute habe ich ein paar sehr interessante Hinweise für euch."
„Das möchten wir doch hoffen", murmelte der Neffe. „Diesmal schafft ihr es wahrscheinlich nicht. Hier kommt der erste Hinweis. Hat ihn jemand von euch gesehen, Yor heißt er?"
Alle sahen sich an. „Yor? Wer oder was ist Yor?"
Sie schüttelten automatisch den Kopf. Keiner wußte mit dem Wort Yor etwas anzufangen.
„Vielleicht finden wir etwas im Telefonbuch", sagte die Witwe.
„Versucht erst gar nicht, im Telefonbuch nachzusehen", sagte da bereits Samuel Stone vom Bildschirm. „Aber ist das nicht ein hübscher Name, Yor? Versucht doch mal, ihn zu singen. Aber ihr müßt ihn im richtigen Schlüssel singen." Der Rechtsanwalt räusperte sich und sang: „Yor ..:!" Die Witwe versuchte es mit höherer Stimme: „Yor...!" Und auch der Neffe sang: „Yor ... !"
Samuel Stone auf dem Bildschirm schüttelte den Kopf. „Das war ja eine scharfe Rasur. In einem Friseurladenquartett hättet ihr keine Chance damit." Er grinste. „Gut, das war das Ende der Hinweise. Viel Glück!" Der Bildschirm wurde dunkel. „Das Ende der Hinweise?" zeterte die Witwe. „Was denn für Hinweise?" fragte der Neffe. „Sollen wir etwa einen Sänger namens Yor suchen?"
David jedoch saß stumm da und blickte nachdenklich, drein. „Wartet!" sagte er. „Ich glaube, ich weiß, was der Hinweis bedeutet."
Alle drängten sich um ihn. „Gehen wir zurück zum Anfang. Was sagte er da? Hat ihn jemand gesehen, Yor heißt er." „Ja, und was bedeutet es?" wollte die Witwe wissen. „Wenn man die beiden Wörter >gesehen< und >Yor< zusammen spricht, und das schnell, was kommt dann heraus? Sehn-yor.
Senor! Das bedeutet >Mann< auf spanisch."
Alle sahen ihn verwundert an. „So, und jetzt gehen wir noch einen Schritt weiter", sagte David. „Er sagte, das könne man singen. Das könnte eine Oper bedeuten. Und er redete von einem Friseurladen, dazu kann man auch Barbier sagen. Und es gibt eine Oper Der Barbier von Sevilla. Sevilla liegt in Spanien, wo die Männer Senor heißen. Versteht ihr? Und da liegt der Schlüssel zum heutigen Schatz!"
„Das stimmt!" rief der Anwalt. „Danach müssen wir suchen.
Jemand in Sevilla, der Barbier heißt oder Barbiere vielleicht!
Und eben ein Mann ist, wegen dieses Wortes Senor."
Jetzt, da sie wieder ihre Spur zu haben glaubten, erfaßte sie sogleich die gleiche Geldgier wie jedesmal.
„Aber du könntest dich irren, David", gab die Witwe zu bedenken.
„Genau", sagte auch der Neffe. „Ich glaube nicht, daß es das ist."
„Und ich auch nicht", sagte der Anwalt. David lächelte in sich hinein. Er wußte genau, was als nächstes passieren würde. Alle würden schnellstens nach Sevilla eilen, um dort einen Mann namens Barbier oder Barbiere zu suchen.
David hatte völlig recht. Die Witwe, der Neffe und der Anwalt flogen noch am selben Abend und in verschiedenen Flugzeugen nach Spanien und versuchten einander gegenseitig zuvorzukommen. Auch David nahm ein Flugzeug. Wenn er den Schatz fand, wollte er ihn der Stiftung Samuel Stone zur Hilfe für die Armen vermachen.
Sevilla ist eine schöne spanische Stadt mit alten Bauwerken, Denkmälern und Kirchen, die schon aus dem zehnten Jahrhundert stammen. Es ist eine der schönsten Städte der Welt. Aber daran waren sie alle nicht interessiert, sondern nur an ihrer Schatzsuche.
Die Witwe kam als erste an. Sie schaute ins Telefonbuch. Dort gab es vier Personen mit dem Namen Barbiere. Sie beschloß, ihr Glück einfach der Reihe nach zu versuchen. Sie nahm ein Taxi zu der ersten Adresse, die sie im Telefonbuch gefunden hatte.
Sie erwies sich als Restaurant. Im Fenster hing ein Schild: „Bedienung gesucht." Sie ging hinein. Ein Mann mittleren Alters mit einer Schürze begrüßte sie. „Senor Barbiere?" fragte die Witwe. „Ja?"
Die Witwe wußte, daß sie vorsichtig sein mußte. Sie konnte also nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und Fragen wegen eines Schatzes stellen.
„Sie sind wohl wegen der Stellung als Bedienung gekommen?" Die Witwe wollte schon sagen: „Selbstverständlich nicht!" Doch dann besann sie sich eines Besseren. Hier zu arbeiten wäre vielleicht die beste Gelegenheit, diesen Senor Barbiere näher kennenzulernen und ihm dann erst Fragen nach dem Schatz Samuel Stones zu stellen. Also sagte sie heuchlerisch: „Ja, deshalb bin ich hier." „Gut. Sie können gleich anfangen."
Die ersten Gäste trafen bereits in dem Restaurant ein, und die Tische füllten sich.
„Draußen in der Küche finden Sie Berufskleidung", sagte Senor Barbiere.
Die Witwe ging an die Arbeit als Bedienung. In ihrem ganzen Leben hatte sie so etwas noch nicht gemacht, und es gefiel ihr gar nicht. Die Gäste waren ungehobelt, und sie selbst brachte alle Bestellungen durcheinander und wurde dafür beschimpft und angeschrien. Noch ehe der Nachmittag vorbei war, hatte sie schreckliches Kopfweh.
Das halte ich nicht aus, dachte sie. Noch ein Tag als Kellnerin, und es bringt mich um.
Sie ging zu Senor Barbiere. „Hören Sie zu", sagte sie; „ich will ehrlich mit Ihnen sein. Ich bin in Wirklichkeit gar keine Kellnerin."
„Das habe ich von meinen Gästen schon zur Genüge gehört", sagte der Senor. „Und wer sind Sie dann?"
„Ich bin die Witwe von Samuel Stone. Er hat Ihnen einen Schlüssel zu einem Teil seines Vermögens anvertraut, und den will ich haben."
„Samuel Stone? Nie gehört."
Sie war beim falschen Senor Barbiere.
Der Anwalt kam am späten Nachmittag in Sevilla an. Er schaute ebenfalls im Telefonbuch nach und beschloß, es beim zweiten Senor Barbiere, der darin stand, zu versuchen. Die Adresse führte ihn zu einem Fitneßzentrum. Der Anwalt ging hinein und wurde von einem großen und kahlköpfigen Mann begrüßt.
„Sie möchten sich ein wenig ausarbeiten?" Der Rechtsanwalt hatte natürlich keine Absicht, sich auszuarbeiten, wollte den Senor Barbiere jedoch auch nicht mißtrauisch machen. Wenn ich ihm sage, ja, ich will mich ein wenig ausarbeiten, dachte er, dann kommt man sich ein wenig näher, und dann kann ich ihn auch nach Samuel Stone ausfragen. Also sagte er: „Ja, ich möchte mich gerne ein wenig ausarbeiten."
„Gut. Ziehen Sie sich aus. Dort hinten in dem Spind finden Sie Turnkleidung."
„Gut."
Der Anwalt zog sich um und ging dann in die große Turnhalle. Sie war voller Sportgeräte. Senor Barbiere suchte zwei große Hanteln aus und reichte sie ihm.
„Hier. Probieren Sie mal, ob Sie sie hochstemmen können." Aber sie waren derart schwer, daß sie den Anwalt fast zu Boden rissen.
„Aha", sagte Senor Barbiere und musterte ihn, „besonders in Form sind Sie also nicht. Das macht nichts. Wir kriegen Sie im Handumdrehen hin."
Den Rest des Nachmittags hatte der Anwalt Gelegenheit, sich auszuarbeiten mit Gewichtheben, Tretmühlenlaufen und Liegestützen, bis er total erschöpft war und ihm alle Muskeln weh taten, so daß er kaum noch stehen und gehen konnte. Endlich war es aus.