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Hinter ihr stand der Professor schon wieder am Pult, arbeitete an einer neuen Zahlenreihe, brummelnd, Voraussetzung auf Voraussetzung bauend, die Finger auf den Tasten, Märchen für den indifferenten Computer ersinnend, die dieser abwägte und verwarf. Und daneben stand Silberstein und sah durch ein Visier der Gleichgültigkeit zu. Ebenfalls urteilend und wägend. Sie ging aus dem Labor. Sie war nicht verantwortlich (auch wenn sie sich darum bemühte) dafür, daß der Professor einen Narren aus sich machte, für die Lückenhaftigkeit seines Genies. Sie ging die paar Stufen zum Garten hinunter. Der Professor bemerkte ihr Weggehen nicht. Auch David Silberstein nicht, dem sonst eigentlich nichts entging.

Sie setzte sich auf eine grüngestrichene Bank am Rand der Wiese zwischen Stockrosen, Mauerblümchen, Rittersporn und Löwenmaul, bewußt gezogene Gartenblumen, die am Zaun wucherten. Die Leute sagten, wie zur Verteidigung, daß Manny Littlejohn Geschmack habe. Doch in ihrer gegenwärtigen Verfassung hielt sie dieses Organisationstalent, das nichts übersah, für vulgär. Und für unverschämt.

David Silberstein kam die Stufen vom Laboratorium herunter. Sie wußte, daß er es war, ohne den Kopf wenden zu müssen. Sein gemessener Gang, weil er das Reiben der Gesäßbacken aneinander für ordinär hielt und es deshalb tunlichst vermied. Am Fuß der Treppe sang er, mehr für sich, die ersten zwei Verse eines mittelalterlichen Rundtanzes:

Summer is icumen in,

Lhude sing cucu!

Gleich würde er sich neben sie setzen und zu ihr sprechen. Sie schloß die Augen und die Ohren und streckte sich unter der Sonne. Es war eine erotische Bewegung, doch sie konnte auch ganz unbewußt gewesen sein. David Silberstein kam zu ihr, setzte sich neben sie und sprach: »Sie sehen so niedergeschlagen aus, Liza. Manchmal müssen Sie wohl denken, daß Sie es nie schaffen werden.« Er wollte also über die Arbeit reden. Liza verharrte in ihrer gestreckten Haltung und bewegte sich nicht. »Nehmen wir einmal an, Sie schaffen es wirklich nicht, Liza. Das ist eine Möglichkeit, die man in Betracht ziehen muß. Vielleicht wäre das sogar die beste Lösung …«

»… die beste Lösung?« Sie richtete sich jäh auf. Ältere Leute waren unerträglich. »Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen!«

»Ich meine, daß wir Verantwortung haben … Wenn unsere Umgebung zusammenbricht, wenn die Katastrophen sich häufen, werden wir dann nicht gebraucht? Sollten wir uns wirklich so beeilen, der Zeit zu entrinnen?«

»Ich bin Wissenschaftlerin. Meine vornehmste Pflicht ist die Wissenschaft.« Das war nur eine These. Wie hatte sie sich nur in so eine Diskussion verwickeln lassen können?

»Unsinn«, erwiderte David Silberstein. »Sie wollen sich einer Theorie verpflichtet fühlen? Einem bloßen Gedankengebäude?«

Das war unerhört. Man drang in ihre Privatsphäre ein. Und wo blieb seine Reserve, sein liebenswertes Taktgefühl? Sie stand auf.

»Es ist lächerlich, von Niedergeschlagenheit zu reden, nur weil ein paar Experimente nicht ganz hielten, was sie versprachen.« Sie legte absichtlich seine Worte als Attacke gegen den Professor aus. »Jedes Experiment ist ein notwendiges Glied in einer langen Kette. Professor Krawschensky weiß ganz genau, was er tut.«

Silberstein hielt ihre Hand fest und verhinderte so, daß sie sich seiner Gegenwart entziehen konnte.

»Meine Liebe, sie müssen die Dinge nicht so komplizieren.« Was sagte er da? Bei Vertretern seiner Generation wußte man nie, wo man dran war. Sie waren so scheinheilig. Vielleicht hatte er von Anfang an nur Sex im Sinn gehabt. Er fuhr sich mit der linken Hand durch das Haar und sah plötzlich zehn Jahre jünger aus. »Ich bitte um Entschuldigung. Ich habe laut gedacht und Ihnen den Schluß einer langen, düsteren Gedankenkette verraten. Das war unverzeihlich. Aber setzen Sie sich doch wieder!«

Sie setzte sich wieder. Sie überlegte, was sie antworten würde, wenn er sie direkt fragte. Doch solche Worte von diesem Mann mit dem milden, verklemmten Gesicht? Unmöglich. Und er hatte sie doch beschuldigt, sie kompliziere die Dinge. Sie drehte ihm das Gesicht zu. Er war auf der Hut, voller Ränke, anziehend.

»Wollen Sie, daß wir Sex treiben, David?«

In diesem Zusammenhang war es erlaubt, den Vornamen zu gebrauchen. Und die Frage verpflichtete keinen von ihnen. Doch er zuckte unmerklich zusammen. Wie ein Kind, das behauptet, es wäre nicht kitzlig.

»Sex? Was für Gedankensprünge Sie machen, Liza. Ich weiß wirklich nicht …« Und jetzt blickte er doch tatsächlich auf seine Uhr! Du meine Güte, so umständlich, so ausweichend, anstatt einfach zu sagen »nein, danke!« Als ob es wichtig gewesen wäre! »Ich fürchte, ich … das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, mir das anzubieten, aber … Nun, Tatsache ist, ich wollte Sie eigentlich um etwas ganz anderes bitten.«

Die typischen losen Enden seiner Altersgruppe. Ihre Frage hatte sofort eine Erektion bei ihm ausgelöst, und trotzdem sagte er immer noch nicht ja. Sie tätschelte seine Hand, die die ihre noch hielt. Er entzog sie ihr, als ihm das zu Bewußtsein kam. Er war bedauernswert und ein Ärgernis zugleich. Niemals, niemals in seinem ganzen Leben würde er etwas aus reinem Vergnügen tun …

»Ich hätte den Professor selbst darum gebeten; aber die Sache ist etwas heikel. Ich bin nicht gerade der Taktvollste. Wissen Sie, ich erwarte heute oder morgen den Besuch des Gründers. Einer seiner ›Überraschungsbesuche‹. Und da fragte ich mich …«

Er war arg verlegen. Sie mußte ihn wirklich aus dem Konzept gebracht haben. Sie half ihm: »Sie fragten sich?«

»Nun, wir müssen ein Experiment in der Zeitreise – äh, Pardon, ich meinte die chronomische Einheit – vorführen. Es gab doch Versuche, die hundertprozentig erfolgreich waren, oder nicht?«

»Selbstverständlich gab es sie. Die einfachen Molekularstrukturen – Metalle zum Beispiel – machen überhaupt keine Schwierigkeiten.«

»Das dachte ich mir. Der Gründer wird bestimmt das Laboratorium aufsuchen …«

»… und Sie wollen, daß wir ihm ein gelungenes Experiment vorführen, auch wenn das für uns reine Zeitverschwendung ist.«

»Auch dann, leider. Sie müssen verstehen, er wird unruhig.« Er nahm ihren Einwand voraus. »Ich weiß, daß das unvernünftig von ihm ist. Ich weiß, daß Sie gewaltige Fortschritte machen. Trotzdem …«

»Trotzdem kosten wir ihn eine Menge Geld, und er will sich überzeugen, daß er etwas für sein Geld bekommt.«

Ihre Abneigung gegen den Gründer wuchs. Bezahlung nach Resultaten, etwas haben wollen für sein Geld – als ob wissenschaftliche Forschung nach Kubikmetern Verkaufsraum im Supermarkt berechnet werden konnte, die in der Woche regelmäßigen Gewinn abwarf. Ein Supermarkt mit Kletterrosen und Löwenmaul, Pseudo-Bauernhäusern und einem Pseudo-Rathaus am Ende einer Pseudo-Dorfstraße.

»Und was sagt er zu all den teuren Attrappen, die hier herumstehen, Mr. Silberstein? Wie kann er über Kosten klagen, wenn er selbst …«

»Werden Sie nicht so bitter, Liza.« Er sprach jetzt mehr im Zorn als in Trauer. »Er darf schließlich sein Geld ausgeben, wie es ihm beliebt. Das ist sein gutes Recht.«

Vielleicht war sie ein wenig zu weit gegangen. Es war gut, daß er sie zurechtwies. Sie hätte sich sonst noch mehr vergessen.

»Bitter? Mein Gott …!«

»Sie sind sehr abgespannt, Liza.«

»Das behaupten alle Leute. Ich bin vollkommen in Ordnung.«