Bis Roses fluchend ans Ufer gewatet war, hatte er bereits den Anlaß des Lärms weitgehend vergessen. Ihn bekümmerte eigentlich nur der Verlust seines Buches. Die Luft war kühl, und seine Hose, die immer viel zu knapp war, prickelte wie Eis auf seiner Haut. Er beschloß, sie zu Hause am Feuer zu trocknen und sich in seine Decke einzuwickeln. Er besaß nur noch eine Sonntagshose, die er nie anzog.
Während er sich dem Haus näherte, stieg ihm ein fremdartiger Geruch in die Nase. Mit Gerüchen kannte er sich eigentlich aus, und so hielt er an der Ecke des Waschhauses an und sog die Luft tief in die Lungen. Ein paar Bestandteile waren andeutungsweise zu erkennen: der Geruch von überhitzten Radiogeräten, von Aspirintabletten, den Reibeflächen alter Streichholzschachteln und etwas Rinzinusöl. Doch für andere Geruchselemente fehlten ihm die Vergleichsmöglichkeiten. Von dieser Tatsache gefesselt, schlich er zur Hintertür und stieß sie auf. Der Geruch war hier so überwältigend, so scharf, daß sich die Muskeln in seiner Kehle zusammenzogen. Gleichzeitig bildete sich in seiner Erinnerung wieder der Umriß eines Geräusches, wie er es nur ein einziges Mal in seinem Leben gehört hatte. Und dann hatte er es wieder: Dieser Geruch war das organische Gegenstück zu dem Lärm, das ihn samt seinem Buch in den Schlamm des Bachbettes geworfen und ihm die nasse Hose eingebracht hatte. Ärgerlich zog er jetzt den Kopf ein und trat in die Küche.
Eigentlich hätte es in dem Raum dunkel sein müssen. Das einzige kleine Fenster war mit Sackleinwand verhangen, und die Hintertür führte auf eine steile Böschung hinaus, über der ein dichtbewaldeter Hügel aufragte. Wenn er seine Lampe nicht anzündete oder das Feuer besonders stark auflodern ließ, war seine Küche ein dunkles Verließ. Er liebte sie so. In der Dunkelheit fühlte er sich sicher.
Als er also jetzt in die Küche trat und sie hell erleuchtet fand, war das für ihn eine beunruhigende Erfahrung. Als käme er in seine Wohnung, die plötzlich ganz verfremdet war. Ein geringerer Mann als Roses wäre auf der Stelle umgekehrt und wäre geflohen. Doch Roses blieb, wartete, bis sich seine Augen der ungewöhnlichen Helligkeit angepaßt hatten, und erkannte dann im Gerümpel sein Eigentum. Er ging im Raum umher. Auch seine Nase hatte sich inzwischen angepaßt, bis der Gestank für ihn kaum noch wahrnehmbar war. Er blickte sich um. Nichts schien von der Stelle gerückt, nichts war gestohlen, aber … Aber da lag ein Buch auf dem Tisch, so nachlässig hingeworfen, daß die Konservenbüchse umgestürzt war, aus der er seinen Tee zu trinken pflegte. Und dieses Buch – überraschend, aber nicht bis zu einem Grad der Unglaublichkeit, weil es in Roses’ Leben nichts gab, was den Rahmen der Möglichkeit sprengte – war die Quelle dieses schattenlosen Lichtes, das selbst die schimmeligste Ecke des Raumes ausleuchtete. Das Licht brachte Einzelheiten zutage, die ihm bisher nie bewußt geworden waren: einen Kalender, den sein Vater vor neun Jahren neben der Treppe aufgehängt hatte; die Hasenfallen bei der Wanduhr; die vertrockneten Lilienstengel unter dem Ständer mit der Waschschüssel.
Roses rückte vorsichtig näher und streckte eine schwarzbehaarte Hand aus. Das Buch strahlte keine Wärme ab. Es glühte nur sehr hell und mit kaltem Licht. Er berührte das Buch, ohne zu wissen, was er sich davon erwartete. Die Berührung löste angenehme Empfindungen aus. Er nahm es jetzt in beide Hände, und die angenehmen Empfindungen nahmen noch zu. Er schlug es auf und stellte enttäuscht fest, daß es keine Bilder enthielt. Er sah nur eine weiße Seite mit einem einzigen Wort in der Mitte. Das Buch spendete so viel Licht, daß man das Wort lesen konnte:
NACKTHEIT
Er wußte, was das Wort bedeutete. Es war ein schmutziges Wort, und deshalb wendete er das Blatt begierig um. Auf der nächsten Seite stand das gleiche Wort
NACKTHEIT
und auf der Seite gegenüber, jetzt schon ganz vertraut:
NACKTHEIT
Er hielt das Buch dichter unter die Augen, als wäre ihm etwas entgangen. Aber da war nichts anderes zu erkennen als gleißende Helle, während durch Fingerspitzen und Hände ein Strom angenehmer Empfindungen in seinen Körper floß.
Er blätterte weiter und fand einen Block von Buchstaben, der ihn entmutigte, weil er so groß war. Immer noch Bilder erhoffend, blätterte er jetzt das ganze Buch durch. Hatte man schon einmal von einem schmutzigen Buch gehört, das keine Bilder enthielt? Ein paar von den Seiten sahen sehr merkwürdig aus, einige waren koloriert und andere wieder schienen Ausschnitte aus Zeitungen zu sein. Ein paar Blätter waren mit Handschrift versehen, und auf anderen Seiten wieder bewegten sich die Buchstaben, während er sie betrachtete. Doch nirgends ein Bild.
Er setzte sich auf einen Stuhl und hielt das Buch im Schoß. Die angenehmen Empfindungen wallten durch seinen Körper, bis er die Zehen in seinen nassen Stiefeln auf und ab bewegte. Er kehrte wieder zur ersten Seite des Buches zurück. Die Länge der Worte schreckte ihn; aber vielleicht bewältigte er sie, wenn er jedes Wort langsam anging. Wenn es genug schmutzige Wörter gab, würden sie ihn schon bei der Stange halten. Er legte einen schwarzen Fingernagel auf das erste Wort des Absatzes und begann zu entziffern:
Als Du zum erstenmal das Wort Nacktheit lasest, was hast Du Dir dabei gedacht? Die Nacktheit der Hügel? Die Nacktheit der Wahrheit? Oder dachtest Du an menschliche Nacktheit? Wenn ja, war es die Nacktheit Deines oder des anderen Geschlechtes?
Dieses letzte Wort war ihm zuerst ins Auge gefallen, und er fuhr mit dem Fingernagel an den Zeilen entlang, bis er es erreicht hatte. Jetzt kam er sich vor, als würde er durch einen dunklen Dschungel wandern.
Nachdem Du den Begriff mit Leben erfüllt hast, welche Empfindungen drängen sich Dir dabei auf? (In alphabetischer Reihenfolge):
Aufregung?
Ekel?
Entzücken?
Freude?
Langeweile?
Religiöse Ekstase?
Schrecken?
Diese Fragen haben tatsächlich einen Sinn, sind keine Zeitverschwendung. Denn um eine Epoche verstehen zu können, muß man zuerst einmal seine eigene Einstellung zu ihren fundamentalen …
Roses las nicht weiter. Nicht die Spur von einer Geschichte und nur zwei schmutzige Wörter. Ärgerlich warf er das Buch auf den Tisch zurück. Gleißend lag es dort, vollkommen unbeeindruckt, fast schnurrend vor Behaglichkeit. Sobald ihm das Buch aus den Händen geglitten war, waren auch die angenehmen Empfindungen verschwunden. Er spürte jetzt die Kälte und das Zwicken der nassen, viel zu stramm sitzenden Hose. Der Schlamm in seinen Stiefeln glitschte zwischen seinen Zehen, das Wasser tropfte von seiner Jacke. Er fluchte auf das Buch, das die Ursache all dieser Widrigkeiten war. Er zog seine Jacke aus, wischte damit den Boden auf und hängte sie neben der kalten Herdstelle auf. Sein Hemd war nur ein bißchen feucht. Deshalb ließ er es an. Er kannte die Gefahren einer Erkältung, und deshalb hatte er das Hemd seit Ostern nicht mehr ausgezogen. Die Schnürsenkel an seinen Stiefeln hatten sich zusammengezogen und ließen sich nur schwer aufbinden. Das Leder war steif geworden, und die Stiefel ließen sich nur mit Mühe abstreifen. Die Hose klebte an seinen Beinen. Er fluchte, wie er es von seinem Vater gelernt hatte, weil er sich noch mit der Decke abmühen mußte, die er der Schicklichkeit wegen übergeworfen hatte.