David Silberstein begleitete Mrs. Lampton weiter durch das Dorf, während sein Blick zu dem Gattertor hinüberglitt, durch welches Roses verschwunden war, gefolgt von Liza. Das war nicht gerecht (richtig?). Nun, es schickte sich nicht, paßte nicht, war gesellschaftlich nicht akzeptabel. Er zensierte das Bild seiner Phantasie von den Dingen, die im Labor geschehen konnten, bevor es erregende Dimensionen bekam, und öffnete die Tür zur Poststelle.
Liza hatte bisher keine Vorstellung von Roses’ Wohnung besessen. Die kleine Küche mit den Säcken als Vorhang war ein schockierender Anblick. Er versetzte sie in mittelalterliche Verhältnisse, die abstoßend, ansteckend wirkten. Ein Mann, der hier leben konnte, konnte ja kaum noch ein Mensch sein. Und Roses Varco glich in diesem Augenblick auch kaum noch einem Menschen. Er zuckte und stieß unzusammenhängende Laute aus. Trotzdem blieb sie bei ihm.
Er saß am Tisch. Als sein Geist zurückkehrte – ohne den gescheckten Hund, ohne Erinnerung an Mrs. Lampton –, wollte das Mädchen gerade seinen Kessel auf den Spirituskocher stellen. Was ihre Bewegungen darstellten, verstand er nicht. Bis er endlich begriff, daß sie den Spiritusbrenner anzünden wollte, und nicht wußte, wie er funktionierte. Er zeigte es ihr, geduldig, ohne Worte, wie man es ihm vor langer, langer Zeit gezeigt hatte. Er hielt ihr die Spiritusflasche unter die Nase, damit sie riechen konnte, was das war. Dann goß er etwas Spiritus in die Pfanne und zündete ihn mit übertriebenen Gesten an. Dann zog er die Ventilschraube an und pumpte Luft hinein, bis ein Kranz von purpurroten Flammen aus dem Gasring loderte. Er wich einen Schritt zurück, als die Demonstration beendet war, und lächelte, lächelte …
Der Kessel summte, und mit viel Zucker und heißem Wasser bereitete er Kakao. Man hatte ihm emaillierte Becher gegeben, die er wie einen Schatz hütete. Seine Konservenbüchsen hatten keine Henkel und verbrannten ihm oft die Fingerspitzen. Er reichte dem Mädchen einen Becher voll heißen Kakao, den sie nicht ablehnen konnte. Er erinnerte sich wieder, daß er von ihr weggerannt war, und war jetzt imstande, sich dafür zu entschuldigen.
»Tut mir leid, daß ich weggerannt bin«, sagte er und glättete die Science-fiction-Comics auf den Knien. »Aber mit manchen Leuten kann man nicht reden. Sie setzen einem zu und behaupten Sachen, die man nie gesagt hat. Dann, ganz plötzlich, schnappt das Eisen zu, und dann haben sie dich. Sie wissen ja, wie das ist, Miß. Sie wissen, wie das ist.«
Liza, die sich auf ihrer Ebene dauernd vor Fehlinterpretationen hüten mußte, wußte, wie das ist. Sie nickte. Sie griff nach dem Löffel in seinem Becher – eine Geste des Vertrauens – und rührte damit ihren Kakao um. Sie hob den Becher an den Mund. Das Getränk war viel besser, als sie gedacht hatte. Er sah ihr beim Trinken zu, als wäre sie ein Kind oder ein junges Kätzchen.
»Das tut Ihnen gut«, meinte er, »bringt Mark in Ihre Knochen.«
Redensarten, die er von seinem Vater gelernt hatte und in Situationen verwendete, die Vertrauen schaffen sollten. »Dann gehen wir in den Wald, wo wir vorhin hingehen wollten. Dann zeige ich Ihnen die Kaninchen.«
Er leerte den Becher mit einem Zug, obwohl der Kakao glühend heiß war. Kaum menschlich … auch der Rülpser nicht, der darauf folgte. Sie unterdrückte diesen Gedanken. Dieser Widerwille, dieses vornehme sich Zieren war ein Erbe von ihrer Mutter. Es hing ihr um den Hals wie ein Mühlstein. Er mußte etwas gemerkt haben.
»Meine Wohnung«, sagte er. »Gefällt sie Ihnen?«
»Sie ist sehr nett.«
»Sie sind wahrscheinlich etwas anderes gewohnt. Aber mir – mir gefällt sie.«
War ihm plötzlich ihre Einsamkeit, ihre Abwehr inmitten dieses uralten, speckigen Plunders bewußt geworden? Sie setzte sich, um ihn nicht weiter aufzuregen.
»Mir gefällt es hier, sage ich Ihnen. Es gefällt mir. Ist alles, was ein Mann zum Leben braucht.«
Er schritt auf und ab in dem halbdunklen Raum, als ob seine Worte noch eine gewaltsame Bestätigung brauchten.
»Hat auch meinem Vater gefallen. War alles, was er brauchte. Bis er sich im Wald umbrachte.«
»Ich habe dir schon gesagt, Roses, es ist sehr nett hier.«
»Nett, sagen Sie. Die da draußen hätte dasselbe gesagt – nett. Nett, sehr nett.«
Er starrte sie an, forderte sie auf, ihrer Behauptung Wahrheit einzuhauchen. Ihn nicht mit Phrasen abzuspeisen, die auf ihn wie eine Beleidigung wirkten. Er forderte sie heraus, sich von dieser Mrs. Lampton zu unterscheiden. Sich deutlich von ihr abzusetzen.
Er war sein Zimmer, und sein Zimmer war er. Sie würde das auf ihrer Ebene in gewisser Hinsicht nie schaffen. Gedrängt (und voller Fürsorge) tat sie das in dieser Situation einzig Mögliche, sie ließ den Becher auf dem Tisch stehen, stand auf, ging zum Ofen, wo er die Holzasche zusammenkratzte, legte ihre Arme um seine Hüften und legte den Kopf an seine Brust. Seine Wärme war ungeheuer, und sein Atem, sein Geruch und das Pochen seines Herzens.
Sie fühlte, wie er erbebte. Sie spürte, wie er den Atem anhielt. Er wartete, von beinahe chaotischer Angst erfaßt, daß sie ihn wieder loslassen sollte. Sie tat es.
Obwohl sie sich jetzt wieder umdrehen, zu ihrem Stuhl zurückgehen und den Kakao austrinken konnte, konnte sie ihm die nächsten Minuten nicht ersparen. Sie wußte nicht, wie sie das hätte tun können. Vielleicht rannte er zum zweitenmal von ihr weg.
»Weiß nicht, warum Sie das tun, Miß.« Er blieb. »War kein Grund dazu, Miß.«
»Warum nennst du mich nicht Liza?«
»Weshalb?«
Eine gute Frage. Nichts war bei ihm möglich. Er war achtunddreißig Jahre lang hinter der schützenden Mauer seiner Idiotie eingesperrt gewesen. Achtunddreißig Jahre hatte er in Schmutz und Scham gelebt. Er hatte nur mit sich verkehrt. War das hinreichend, was sie ihm zu bieten hatte? Sie beherrschte sich, unterdrückte eine Gereiztheit, die sie nur selbst treffen konnte. Sie konnte doch wenigstens vermeiden, die gleichen Fehler zu machen wie Mrs. Lampton.
»Lassen wir das. Vielen Dank für den Kakao. Wollen wir jetzt gehen und die Kaninchen beobachten?«
Auf dem Weg ins Freie trafen sie bedauerlicherweise wieder mit David und Mrs. Lampton zusammen, die das Labor besichtigen wollten. Roses hätte sich an ihr vorbeigedrängt, doch sie verstellte ihm den Weg.
»Mr. Varco«, sagte sie, »ich hoffte, daß ich Sie noch einmal sehen würde. Ich wollte Ihnen sagen -«, er versuchte vergeblich, sich zwischen ihr und der Gartenmauer hindurchzuzwängen, »ich wollte Ihnen nur sagen, wie leid es mir tut, daß ich Sie so aufgeregt habe. Das Leben hier muß für Sie ohnehin schon eine Last …«
Liza ließ sich im Gegensatz zu Roses nicht von diesem Manöver des Wohlwollens einschüchtern.
»… wollen Sie uns bitte vorbeilassen?« unterbrach sie.
»Ich spreche mit Mr. Varco, meine Liebe. Ich glaube nicht …«
»Er möchte jetzt nicht angesprochen werden, Mrs. Lampton. Das sehen Sie doch ganz deutlich!«
»Es wäre mir lieber, er würde mir das selbst sagen, meine liebe.«
Doch sie schwankte, als Liza sie mit kalter Feindseligkeit betrachtete, und Roses zwängte sich vorbei. Liza folgte ihm. Mrs. Lampton fing Roses noch einmal am Gartentor mit dem Lasso einer klug berechneten Reaktion ein: »Mr. Varco, warten Sie noch einen Moment!« Er blieb stehen, wie sie erwartet hatte. »Sie sind doch nicht zufällig ein Jude, oder?«
Roses starrte die Blumen an, die im Garten wuchsen. Ehe er darauf antworten konnte – und seit Liza ihn beschützte, hatte er keine Angst mehr vor der Antwort –, hätte er Mrs. Lampton fragen müssen, was ein Jude ist. Dazu brauchte man Worte, ganze Sätze. Und in seinem Kopf war nur ein gleißendes Flimmern von Sonnenlicht und Blüten.
»Ich dachte mir schon, daß Sie kein Jude sind«, sagte Mrs. Lampton. »Sie sollen wissen, daß Sie hier nichts zu befürchten haben. Sie haben jetzt einen Freund in der Außenwelt! Sie brauchen keine Angst zu haben!«