Sir Edwin blickte ihr fast eine halbe Minute lang ins Gesicht. Das Schweigen ist auch eine Art, einem Widersprechenden sein Mißfallen zu zeigen.
»Nun«, sagte er schließlich, »ich verderbe Ihnen Ihre Flucht zurück zur Natur. Wiedersehen, ihr beiden. Und viel Glück bei der Beobachtung der Kaninchen!«
Wenn sich ein Mann und eine Frau auf einer versteckten Lichtung trafen, wertete er das nicht mit einer Anspielung oder einem spöttischen Unterton aus. Er war ein Mann, der sich von Berufs wegen jeder Lage anpassen mußte, und er hatte sich auch den neuen Freiheiten angepaßt, bis sie zu seinem Wesen gehörten. Darin unterschied er sich vom Professor. Und von David Silberstein. Er nickte Roses und Liza kurz zu und ging weiter. Vielleicht sah er – wie Liza – im Zaun die Garantie seiner Sicherheit. Vielleicht auch die Stäbe eines Käfigs.
Der Pfad schlängelte sich an den Bäumen entlang. Bald war Sir Edwin außer Sicht. Liza war er so gleichgültig wie Mrs. Lampton.
»Wir haben genug von den Kaninchen gesehen«, sagte sie. »Wenn du nichts Besseres mehr vorhast, gehe ich jetzt zurück ins Labor.«
Roses spürte ihre Gereiztheit. Es gab keinen vernünftigen Grund dafür. In Zukunft wollte er sich lieber an seine Schwäne halten.
Am Kai hatte sich David Silberstein inzwischen von seiner Besucherin verabschiedet. Sie hatte es so eilig, das Dorf zu verlassen, daß David Schwierigkeiten voraussah.
Es war bereits Feierabend. Ein paar Leute vom Dorf schwammen im tiefen Wasser vor dem Kai. Sie kreischten, tauchten und planschten um die Wette. Trotz der Hitze spürte Silberstein kein Verlangen, sich dem Badevergnügen anzuschließen. Er liebte das Wasser auf eine sanfte Art – das Spiel der Wellen, das Plätschern unter dem Kiel, das Rinnen der Tropfen über die Hand. Doch der Konfrontation mit dem nassen Element ging er aus dem Weg – das Knacken in der Ohrmuschel und die kühle, totale Nässe, der man sich beim Schwimmen aussetzen mußte, behagten ihm nicht.
Und das Paddeln, das ihm vielleicht Spaß gemacht hätte, vertrug sich nicht mit seiner Stellung. Deshalb setzte er sich auf eine Bank und genoß die Badefreuden nur akustisch.
Nach einigen Minuten stieg Daniel aus dem Wasser, ließ dunkle, nasse Spuren auf den gebleichten Kieselsteinen zurück. David mochte Daniel nicht. Die ausrasierten Schamhaare und die Tätowierungen waren ihm widerwärtig. Er schüttelte sich wie ein Köter und frottierte sich den Rücken. Dann legte er seine Sandalen und das Schulterhalfter für seinen Schreibstift an. Er lümmelte sich neben David auf die Bank und strich sich die letzten Tropfen aus dem Spitzbart.
»Das erstemal, daß ich mich den ganzen Tag abkühlen konnte«, sagte Daniel und ließ seine Zehen rollen. »Ein großartiges Gefühl. Sollten auch mal baden.«
»Später«, murmelte David. Schließlich war er nicht schlechter gebaut als Daniel.
»Habe noch nie einen so heißen Sommer erlebt«, sagte Daniel. »Großartig. Das Wetter soll noch einen Monat so bleiben.«
»Das zöge auch Versorgungsprobleme nach sich«, meinte David, »verstopfte Kläranlagen.«
»Typisch für dieses Land«, erwiderte Daniel. »Ein paar Zentimeter Schnee, und schon sind die Straßen verstopft. Zwei Tage Sonne, und die Wasserleitungen keuchen und spucken. Warum bewältigen wir nie unser Wetter und lassen uns jedesmal von neuem überraschen?«
David wollte nicht pedantisch sein. Also unterdrückte er den Einwand, daß die Hitzeperiode bereits neunundvierzig Tage anhielt.
Daniel betrachtete seine Zehen, blickte auf seine Uhr und schneuzte sich in sein Handtuch. »Haben Sie vielleicht Liza Simmons irgendwo gesehen?« fragte er dann.
Was für ein Recht hatte Daniel, ihm so eine Frage zu stellen, dachte David. Er habe sie zum letztenmal mit Roses Varco zusammen gesehen, erwiderte er gelangweilt.
»Sie steckt viel zu oft mit dem Trottel zusammen. Ich sehe Unheil voraus.«
»Ich verstehe nicht, wie Sie zu dieser Behauptung kommen.« Der gelangweilte Ton gelang ihm diesmal nicht so ganz.
»Wie ich dazu komme? Na hören Sie mal! Wenn der Kinder zeugt, haben die bestimmt den gleichen Dachschaden wie er. Ein Schwachsinniger in Lizas Familie – na, danke schön!«
»Es wird keine Familie geben. Schließlich bekommt er die Pille wie wir alle.«
»Hat jemand gesehen, daß er sie auch nimmt?«
»Wir – äh – hielten in seinem Fall eine Kontrolle für nicht so wichtig.«
Daniel lachte laut, als ob er eben den köstlichsten Witz seit Monaten gehört hatte. David biß sich auf die Lippen. Das war ein Verwaltungsproblem, hatte nichts mit der Vorstellung zu tun, wie sich Liza (seine Liza?) mit diesem stinkenden Dorftrottel paarte.
»Liza ist eine vernünftige Frau. Sie würde niemals so ein Risiko eingehen.«
»Sie würde sich diese Konsequenzen überhaupt nicht überlegen. Frauen denken in diesem Punkt nicht mehr nach. Sie hat einen gesunden Appetit. Wenn sie hungrig ist, würden solche Überlegungen sie nicht abschrecken.«
Der Projektleiter glaubte, verletzte Eitelkeit herauszuhören. »Warum sagen Sie mir das?« stieß er nach und blickte zur Seite. »Paart sie sich denn nicht mehr mit Ihnen?«
»Sie glauben wohl, ich sei eifersüchtig, wie? Warum, zum Teufel, soll ich wohl eifersüchtig sein? Wir paaren uns, mit wem wir wollen. Orgasmus ist Orgasmus. Man merkt Ihnen Ihr Alter an, Projektleiter. Das Leben ist nicht mehr so kompliziert wie früher.« Er stand auf. »Das Leben ist nicht mehr so kompliziert«, wiederholte er als Bestätigung (Selbstbestätigung?). »Wir wollen bloß keinen zweiten Dorftrottel in der Gemeinde haben. Ein Schwachsinniger in Lizas Familie – du meine Güte! (Daniel wiederholte sich schon wieder). Das arme Mädchen. Sie sollten mit ihr darüber sprechen.«
Das war eine neue Wendung. Daniel hatte von Anfang an diesen Satz anbringen wollen. David seufzte.
»Vielleicht.« Verdammt – konnte er überhaupt mit ihr darüber sprechen?
»Oder vielleicht ist es besser -«, man muß liberal sein, »vielleicht sollte ich mir Roses vorknöpfen und ihn auf die Wichtigkeit seiner Pille hinweisen.«
»Tun Sie das, wenn Ihnen das lieber ist. Ich persönlich würde jede Wette eingehen, daß der Idiot immer noch an den Storch glaubt.«
Daniel stand auf und entfernte sich, unbeherrscht mit dem Handtuch schnalzend und die hohen Margeriten köpfend, die auf der Dorfwiese wuchsen. Er war sicher nicht stolz darauf, daß er gesagt hatte, was gesagt werden mußte.
David Silberstein blieb still auf der Bank sitzen. Er liebte Liza Simmons. Vielleicht war seine Liebe anachronistisch, unziemlich, gefühlsselig – trotzdem, er liebte Liza. Es war seine Pflicht, sie zu retten. Tatsächlich hatte er eine doppelte Pflicht wahrzunehmen, einmal als Projektleiter und zum anderen als Mann. Und in so einer delikaten Situation war er doch berechtigt, seine männliche Qualität heranzuziehen, um seine dienstliche Funktion zu erfüllen. War er das? Vor ihm stieg ein Mädchen aus dem Wasser, balancierte am Rande des Kais und sprang dann wieder ins Wasser. Natürlich war er dazu berechtigt. Nicht seine Neigung trieb ihn an, sondern sein Pflichtgefühl. Unter dem Kai lachten die Badenden und spritzten sich gegenseitig Wasser ins Gesicht. Wenn seine Pflicht ihm einen Weg vorschrieb, mußte er ihn gehen.
Eine delikate, intime Sache. Intime Sachen setzten intime Situationen voraus. Als Projektleiter, als Vater von einer Reihe über das Land verstreuter Kinder war ihm seine Pflicht klar und deutlich vorgezeichnet.
Zweifellos hatte sie einen gesunden Appetit, wie Daniel behauptet hatte. Ein gesunder Appetit verlangt nach gesunder Nahrung. Als Mann, als ein Mann, den sie bestimmt nicht unsympathisch fand, war ihm seine Pflicht ebenfalls klar und deutlich vorgezeichnet.
Wenn sie hungrig ist, richtig hungrig, würde sie über die Konsequenzen nicht nachdenken. Und die Folgen – bei einem so sensiblen Mädchen wie Liza – nicht auszudenken … Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Er stand auf und ging zurück in sein Quartier. Sein Entschluß stand fest.