Выбрать главу

Das Dachfenster mit den Butzenscheiben blickte auf einen kleinen Hof hinaus. Geranien wuchsen dort in großen Töpfen. Neben einer verrosteten Wäschemangel schlief eine große, rotbraune Katze. Ober den weißgekalkten Wänden ragten schiefe Schornsteine und schräge Giebel auf. David Silberstein starrte aus seinem Schlafzimmerfenster, ohne das alles wahrzunehmen. David Silberstein versuchte, nicht realistisch zu sein. Et versuchte, sich zu erinnern, wie er – obwohl der Vorschlag, sich zu paaren, von ihr gekommen war – so verwirrt war, daß er sich außerstande sah, ihr Angebot anzunehmen. Er verdrängte die Erinnerung an zahllose Mädchen, deren Hand zu halten er sich nicht getraut hatte. Er dachte nicht an die langen Jahre, wo er sich in Enthaltsamkeit geübt und vor Frustration in das Kopfkissen gebissen hatte. Er dachte nicht an den einzigen Ausweg, der ihm geblieben war, das Masturbieren im Schlafzimmer mit vorgezogenen Vorhängen und zur Wand gedrehtem Spiegel. Doch bisher war er auch noch nie so verliebt gewesen, nicht so in Liebe entbrannt. Liebe (das altmodische Wort, das sich ihm flüsternd aufdrängte), Liebe verlieh einem Mann Mut. Es würde auch ihm Mut geben. Es mußte ihm Mut einflößen. Rasch jetzt, ehe es zu spät war. Wenn es nicht bereits zu spät war.

Er stellte sich unter die Dusche, öffnete dann den Schrank und kramte in seinen Sommersachen, ob er nicht etwas besonders Jugendliches finden konnte. Die linke Tür schwang ganz zurück und fing sein Bild ein, weil die Innenseite mit einem mannshohen Spiegel versehen war. Er betrachtete seinen nackten Körper. Jugendlich und anziehend? Nun, bestimmt nicht alt oder sonderlich abstoßend. Auf jeden Fall nicht abstoßend für eine Frau. Wahrscheinlich nicht. Er betrachtete sich eingehend, wenn auch mit leichter Schamröte. Brust, Arme, Bauch, Penis, Hoden, Knie, Knöchel … alles das nicht anziehender oder abstoßender als bei allen anderen Männern, die er täglich in seiner Umgebung sah. Er schwang auf den Fersen herum, fand die Seitenansicht ein bißchen vorwitziger und drückte die Sache nach unten. Sie kam wieder hoch. Nun, ein Nachteil war das nun auch wieder nicht – vielleicht mochten Frauen, daß Männer vorwitzig waren. Auf jeden Fall hatte Gott ihn so geschaffen, und die Nacktheit sollte einem ja die Hemmungen nehmen …

Seine Pflicht war ihm jetzt noch klarer vorgezeichnet. Er legte Socken und Schuhe an. Die Schuhe verdarben irgendwie den Eindruck. Also ersetzte er sie durch Sandalen. Die Sonnenbrille vervollständigte seinen Anzug. Die Sonnenbrille brachte ihm sichtlich Erleichterung. Er war angezogen. Mit der Brille glich er so sehr irgendeinem anderen, daß ihn vielleicht gar niemand wiedererkannte – ausgenommen Liza, wenn er die Brille abnahm. Nicht, daß ihn dieser Gedanke störte, wenigstens nicht ihn, als David Silberstein. Doch er war ja gleichzeitig der Projektleiter. Und die Schamteile des Projektleiters durften nicht leichtfertig herumgeschleudert werden, hatten immerhin auch rangrespektierliche Bedeutung. Doch mit der Sonnenbrille konnte er es durchaus schaffen, inkognito das Dorf zu durchqueren.

Er ging die Treppe hinunter und zögerte vor der geschlossenen Tür seiner Herbergsmutter. Er hörte sie in der Küche hantieren, den Tisch decken. Es war nicht nötig, sie zu stören, wenn sie so viel zu tun hatte.

»Vielleicht komme ich etwas später zum Abendessen, Mrs. Berman«, rief er laut. »Bitte, warten Sie nicht auf mich!«

Er schlüpfte rasch durch die Vordertür und warf sie hinter sich ins Schloß. Ach, du meine Güte, dachte er. Die Tür war zu, und er hatte keine Hausschlüssel, da er ja auch keine Hose anhatte. Die Sonne schien auf seine Haut, der Wind blies auf seine Haut, und die Erde dehnte sich endlos um ihn bis hinauf zu den Sternen. Wenn er an der Hausglocke zog und Mrs. Berman öffnete, würde sie ihn … ihn … Er wich nicht von der Stelle. Die Frau vom alten Josef schlürfte vorbei. David Silberstein lehnte sich gegen die Tür, als sonnte er sich. Die alte Dame war schon ein bißchen konfus. Vielleicht erkannte sie ihn gar nicht.

»Guten Abend, Mr. Silberstein.«

»Guten Abend, Mrs. Engels.«

»Ein herrliches Wetter, Mr. Silberstein.«

»Ja, da haben Sie recht, Mrs. Engels.«

Und er hatte an sein Inkognito geglaubt! Oh, du gütiger Himmel! Und wohin sollte er sich jetzt wenden? Liza würde sich wahrscheinlich im Labor aufhalten. Das Labor befand sich am anderen Ende des Dorfes. Oh, du gütiger Himmel! Vielleicht sollte er lieber einen Dauerlauf machen … Er stemmte sich von der Haustür ab. Schließlich waren auch die alten Griechen nackt um die Wette gelaufen. Die Chrononauten taten das ebenfalls. Sie vergaben sich nichts dabei. Oder doch?

Er ging – er ging sogar ganz langsam und vorsichtig, so daß nichts schwappte und schlenkerte.

Der Himmel war ihm gnädig. Er begegnete so gut wie gar keinem. Die verheirateten Paare waren jetzt alle zu Hause und bereiteten das Abendessen vor. Die Unverheirateten waren beim Schwimmen oder spielten Tennis oder legten – wie seine geliebte Liza – noch Überstunden ein. Die wenigen, die ihm begegneten, taten so (taten so?), als konnten sie nichts Ungewöhnliches an ihm entdecken. Er drückte sich unauffällig durch das Gittertor des Labors und kletterte die Vordertreppe hinauf. Obgleich die Liebe ihn inspiriert hatte, drängte die Pflicht ihn jetzt vorwärts. Es war schiere Pflichterfüllung, die ihn die Stufen hinaufzog, während sein Hintern sich allen Blicken darbot.

Im Innern des Labors herrschte Zwielicht. Liza saß ganz allein vor dem Computer, eingehüllt in ihren sauberen, weißen Kittel. Trotz seiner Sonnenbrille erkannte sie ihn sofort. Er hatte das Gegenteil erhofft. Er fühlte sich entmutigt.

»Suchen Sie den Professor?« fragte sie.

»Eigentlich nicht. Ich – äh – suchte Sie.«

»Der Professor ist heimgegangen.« Sie wendete sich wieder ihren Zahlen zu. »Ich habe mir den Nachmittag freigenommen. Deshalb arbeite ich jetzt und erledige die noch anstehenden Tagesprobleme.«

»Nun, ja … Ich wollte doch nur dich sehen, geliebte Liza.«

»Sie werden den Professor in seiner Wohnung finden. Obgleich ich bezweifle, daß Sie jetzt von ihm empfangen werden.«

Sie hatte bisher noch nicht die Augen vom Lochstreifen gehoben. Deshalb faßte er neuen Mut. Er lehnte sich an die halb geöffnete Tür und pumpte sich weiter mit Mumm auf, bis er zu allem bereit war. Schließlich, sagte er sich, bin ich ja der Projektleiter.

»Ich wollte den Professor gar nicht sehen. Ich wollte Sie sprechen, Liza Simmons.«

Er wartete. Fünf, zehn, fünfzehn Jahre verstrichen.

»So?« Jetzt endlich sah sie ihn doch an. Sie sah ihn jetzt, wie er wirklich war. Nicht alt, nicht unattraktiv, nicht einmal scheu … Er suchte in ihren Augen wenigstens das, was er das letztemal darin gefunden hatte, damals, als der Professor sie besucht hatte. Er suchte in ihren Augen und fand nichts darin, nichts als Distanz und kühle Überraschung.

(Sie dachte, daß sie sich getäuscht hatte, als sie David Silberstein interessant fand. Er war nichts. Er war weder altmodisch, noch bescheiden, noch ein Vater, noch ein hilfloses Kind. Sie suchte nach einer Persönlichkeit, aber er war keine. Er war nur ein sexuelles Objekt.)

»Wirklich?« All das lag jetzt in ihrer Stimme. »Was wollten Sie mir sagen?«

Es war nichts mehr da, wofür es sich lohnte, Mut aufzubringen. Nur die Pflicht hielt ihn noch hier. Pflicht und immer nur Pflicht. Er räusperte sich.

»Ich wollte Sie darauf aufmerksam machen«, seine Stimme wurde nicht einmal unsicher, während er auf die gegenüberliegende Wand starrte, »daß Roses Varco wahrscheinlich nicht regelmäßig seine Pille nimmt.«

Es folgte ein kurzes Schweigen. »Ich dachte mir, Sie sollten das wissen.«

Jetzt war seine Pflicht getan. Er konnte wieder entwischen. Seine Sandalen klapperten die Stufen hinunter. Er versteckte sich im Lagerraum unter dem Labor, bis es dunkel genug war und er seine Nacktheit ungesehen nach Hause brachte. Im Umgang mit Männern und Menschen, mit Verwaltungsproblemen, Verteidigungsanlagen, Intriganten und Querulanten war er ein Genie. In der Liebe war er … weniger gut. Mrs. Berman ließ ihn ohne Kommentar ins Haus, das heißt, sie verstand vollkommen, warum er keinen Schlüssel bei sich haben konnte. Sie hatte ihm das Abendessen warmgehalten, aber David hatte keinen Hunger. In diesem Moment bezweifelte er, daß er überhaupt noch einmal in seinem Leben hungrig sein könnte.