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Und Liza? Liza arbeitete im Halbdunkel des Labors, nur ab und zu von den Gongschlägen oder den Pfeifentönen der Laboruhr in ihrer Konzentration gestört. Sie hatte sich im stillen amüsiert, daß David Silberstein sie für so eine Draufgängerin gehalten hatte. Besonders deswegen, weil sie ja eine Pille in den Becher mit dem heißen Kakao von Roses Varco geworfen hatte. Nur zur Vorsorge …

ZWISCHENBEMERKUNG

An diesem Punkt meiner Geschichte enthält das Original, dem dieses Buch als phantasievolle Neuschöpfung in allen Fakten entspricht, einen Zeitungsausschnitt. Ich füge ihn an dieser Stelle aus ökonomischen und informativen Gründen bei. Meine Buchdrucker sind natürlich nicht die Drucker des Originals. Sie verfügen nicht über die technischen Möglichkeiten, jenem Zeitungsausschnitt sowohl absolute Dauerhaftigkeit als auch jenes undefinierbare Fluidum zu verleihen, was eben einen Zeitungsausschnitt ausmacht. Ich meine, jenen Geruch von Druckerfarbe und Papier, jene etwas grobe, graustichige Machart des Zeitungsbogens und den Beigeschmack von Fisch und Chips. All das muß sich der Leser eben hinzudenken:

DIE MERKWÜRDIGEN VORGÄNGE IM FORSCHUNGSDORF PENHENIOT,

ein Bericht von Mrs. L.

Gestern traf ich einen traurigen und einsamen Mann. Er wohnt in einem kleinen Dorf, keine zwei Meilen von dem freundlichen Kurort St. Kinnow in Cornwall entfernt. Das Dorf ist kein gewöhnliches Dorf und der Mann kein gewöhnlicher Mann. Sein Name ist Varco, und sein Dorfspitzname ist Roses. Wenn man ihn anspricht, zittert und stammelt er. Er ist vollkommen verstört und hat seine Reflexe nicht mehr unter Kontrolle. Dieser Bedauernswerte wohnt in dem geheimnisvollen Experimentier- und Forschungsdorf Penheniot.

DIE ÜBLICHEN DEMENTIS

Der Boss dieser Forschungseinrichtung, David Silberstein, aalglatt und redegewandt, behauptet, daß Varco schon in dem Zustand auf die Welt gekommen sei, in dem er sich heute befindet. Die Experimente, die in dem Dorf durchgeführt werden, hätten nicht das geringste mit dem gestörten seelischen und geistigen Zustand von Mr. Varco zu tun. Auch der wissenschaftliche Leiter des Dorfes, Igor Krawschensky, der zu den Verfolgten des Naziregimes gehört, beteuert diesbezüglich seine Unschuld. Ich habe niemand im Dorf getroffen, der nicht das gleiche gesagt hätte. Das Forschungsprojekt wird von dem bekannten Großkaufmann und Abenteurer Emmanuel Littlejohn finanziert.

DORFIDYLLE MIT POLIZEISTAAT-ORDNUNG

Nur Mr. Varcoein Mann, der in Cornwall geboren und aufgewachsen istmacht eine Ausnahme. Er ist verstört, ängstlich und weicht jedem Interview aus. Das reizte mich, der Sache auf den Grund zu gehen. Doch Mr. Silberstein lehnte es ab, mich aufzuklären, wonach denn nun eigentlich in Penheniot geforscht wird. Auf jeden Fall ist es ein Projekt, zu dem ein drei Meter hoher elektrischer Zaun gehört, der das Dorf hermetisch abriegelt. Und dazu gehört auch totale Disziplin, eine Postzensur und strenge Isolierung von der Außenwelt.

ES GEHT UNS ALLE AN

Was soll man dazu sagen? Natürlich leben wir alle in einem Staat mit freiheitlicher Grundordnung. Doch erst vor ein paar Tagen griffen Bewohner von St. Kinnow eine Gruppe von Angestellten aus dem Forschungsdorf an. Diese Leute wissen doch Bescheid. Schließlich haben sie mehr als zwei Jahre in engster Nachbarschaft mit Penheniot und seinem Zaun gelebt. Die Lage in diesem Teil des sonnigen Cornwall ist gespannt. Es ist höchste Zeit, daß die Regierung das Leben und Treiben in jenem merkwürdigen Dorf genau unter die Lupe nimmt. Auf jeden Fall muß sie sich um Mr. Roses Varco kümmern, damit seine Leiden nicht noch schlimmer werden.

V

Es war schon spät. Roses und Liza waren mit dem alten Ruderboot von Varco den Fluß hinaufgefahren bis zu der Stelle, wo die Hausboote angebunden waren. Als Ausrede und Vorwand hatte Liza die Schwäne genommen. Sie hatte sich eingeredet, sie wollten nur die Schwäne beobachten. Aber sie hatten keinen einzigen Schwan entdecken können. Liza brach deswegen keineswegs das Herz. Sie konnte Roses Begeisterung für Schwäche nicht teilen. Sie hielt sie für bösartig, gefräßig und rücksichtslos. Roses ruderte ganz dicht an den Hausbooten entlang, so daß Liza durch die Bullaugen und Fenster blicken konnte. Sie blickte gleichsam durch ein rundes Schlüsselloch in eine andere Welt: Beratungsraum, Gemeindesaal, eine Reihe von würfelartigen Kabinen, als handle es sich hier um einen Tempel der Wissenschaft. Die Kinder an Deck blickten sie schläfrig an. Die Frauen hielten in der Arbeit inne, um sie ebenfalls anzustarren. Es waren Frauen mit langen Haaren, in eigenartigen, selbstgestrickten Gewändern, nicht ganz sauber. Niemand sprach sie an. Die Dorfbestimmungen hätten Liza sowieso verboten, Fragen zu beantworten; doch das totale Schweigen bedrückte sie. Über dieser Hausboot-Gemeinde lag wie eine Dunstglocke die Isolation der Verzweiflung, der totalen Beschränkung auf sich selbst und die Gemeinde, der Beschäftigung nur mit sich selbst. Selbst die drogenberauschten Kinder waren ganz anders als die drogenberauschten Kinder, die sie bisher erlebt hatte. Roses wendete dann hinter dem letzten Hausboot, und sie fuhren wieder flußabwärts.

Die Luft war schwer und voller Gerüche. Der Abendhimmel glich einer Wunde, mit eitergelben Streifen und schwärigem Rot. Der Fluß wand sich, verdächtig schillernd, zwischen den dunklen, schweigenden Hügeln hindurch. Die Flut stemmte sich jetzt gegen das Boot, und sie bewegten sich nur langsam vorwärts. Roses stemmte sich gegen die Ruder, die Stirn gerunzelt vor Anstrengung, sein Atem überlaut in der bleiernen Stille. Liza hielt sich am Dollbord fest, spürte das Holz bei jedem Schlag arbeiten. Dreißig Jahre Farbanstrich unter ihren Fingern, darunter die Kerben und Narben abgenützten Holzes. Auf der Fahrt stromaufwärts hatten sie sich von der Flutwelle mittragen lassen. Jetzt hielt sich Roses an das träge wirbelnde Wasser in der Nähe des Ufers. Der Steuerbord-Riemen tauchte nur Zentimeter vor den tiefhängenden Zweigen ein, in denen sich grünlich verfärbte Plastikschachteln, graue Toilettenpapier-Rollen und anderer Abfall verfangen hatte. Nichts regte sich hier, weder am Ufer noch in der Luft.

Liza blickte nach vorn. Gleich würden sie die Einmündung eines kleinen Baches kreuzen. Zwischen dem dichten, tangverhangenen Gestrüpp schimmerte etwas Weißes hervor. Vielleicht hatten sie den Nistplatz der Schwäne entdeckt. Sie berührte Roses’ Knie und deutete hinüber. Er blickte über die Schulter und bewegte jetzt die Riemen in entgegengesetzter Richtung. Das Boot wurde sofort langsamer, verharrte dann vor der Einmündung, während das Heck von der Strömung abgedrängt wurde. Er ruderte sacht, hielt das Boot parallel zum Ufer und betrachtete die Stelle in der kleinen Bucht, wohin Liza mit dem Finger deutete. Er lenkte das Boot noch dichter heran.

Zwei Schwäne waren in der winzigen Bucht. Mit hängenden Flügeln schaukelten sie leise auf dem Wasser, die Hälse ausgestreckt, tot. Voll Entsetzen sah Liza, daß sie die Augen offen hatten.