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»Hier haben Sie ihn«, sagte er, »hier haben Sie den Moment des molekularen Zusammenbruchs. Dauernd lag die Lösung zum Greifen nahe vor uns. Warum wir immer glaubten, der Zusammenbruch geschehe dicht vor dem Wiedereintritt in unseren irdischen Zeitfluß, ist mir jetzt unbegreiflich.«

Liza war es durchaus begreiflich. Sie erinnerte sich an die vielen Diskussionen, die Streitgespräche. Sie erinnerte sich, daß man ihre Meinung verworfen hatte. Doch sie sagte nichts. Diese Dinge waren gar nicht so wichtig. Sie war jung. Sie hatte viel Zeit … (Hatte sie tatsächlich so viel Zeit? Waren die Tage denn nicht schon längst gezählt?) Sie konzentrierte sich wieder darauf, was der Professor ihr zu sagen hatte.

»Sobald dieser Fehler entdeckt war, Liza, war alles andere ein Kinderspiel. Ich brauchte ja nur den Übertritt in die chronomische Einheit zu verzögern und beim Wiedereintritt die Bremse etwas zurückzunehmen.« Er spreizte kühn die Hände. »Ich tat es. Während Sie abwesend waren, unauffindbar, unsere Zeit verschwendend, leistete ich das alles. Es klappt perfekt. Erlauben Sie, daß ich es Ihnen vorführe.«

Liza erlaubte es ihm. Er ließ Tische, Schirmständer und Zimmerpflanzen mit beeindruckender Zuverlässigkeit in die chronomische Einheit hinein- und herausgleiten. Die neue Technik funktionierte. Jedesmal. Selbst eine Wasserlilie aus Penheniot, die vom Professor mit japanischer Gewissenhaftigkeit in einer Milchflasche »arrangiert« wurde, verschwand und erschien wieder, ohne etwas von ihrer Frische zu verlieren. Liza war fasziniert. Gleichzeitig schämte sie sich, daß sie den alten Mann immer so gönnerhaft behandelt hatte. Es war sehr unfair von ihr gewesen, von einem bedeutenden Naturwissenschaftler auch noch zu verlangen, daß er eine bedeutende Persönlichkeit sein müsse. Nachdem lebende Materie erfolgreich in den Strom der Zeit versetzt und wieder zurückgeholt worden war, ließ der Professor nichts mehr zu wünschen übrig. Seine Theorien, sein ganzes Leben hatten hiermit ihr Bestätigung gefunden.

Was noch blieb, war Abwicklung. Besonders der elektro-chronomische Zeitmechanismus ließ noch zu wünschen übrig. Im gegenwärtigen Zeitpunkt betrug die Fehlabweichung noch vierzig Prozent, wenn die Zeitzähler die Versuchsobjekte wieder aus der chronomischen Einheit in die Realzeit zurückholten. Doch das war nur ein untergeordnetes Problem. Im Computer steckte schon ein Entwurf für einen nuklearen Zeitzähler oder Zeitschrittmacher, dem man eine absolute Zuverlässigkeit zutrauen konnte. In Gedanken spielte Liza bereits mit einem Superpuffer, der den Zellstrukturen ermöglichen würde, die Chronoküle im umgekehrten Zeitsinn zu durchdringen. Der Simmons-Effekt – ein würdiges Gegenstück zur Zeittheorie von Krawschensky.

Um zehn Uhr brach Professor Krawschensky seine Vorführungen ab.

»Heute früh, als ich sah, daß die Technik reibungslos funktionierte, beschloß ich, ein Versuchsobjekt längere Zeit in der chronomischen Einheit zu belassen. Neun Stunden lang, Liza Simmons. Da wir unsere Zeitschrittmacher gut kennen, wissen wir, daß sie niemals die Objekte zu früh aus dem Zeitstrom zurückholen. Trotzdem wollen wir die Bühne jetzt freihalten – für alle Fälle.«

»Was für einen Versuchsgegenstand haben Sie gewählt?«

»Morgens um zwei ist man ja noch etwas benommen. Und unsere Versuchsobjekte sind immer so statisch …« Du meine Güte, dachte Liza. »Ich füllte einen emaillierten Badezuber voll Wasser und schüttete Badesalz hinein. Ich habe ein Schaumbad in chronomische Einheit versetzt. Ein Schaumbad mit Gardeniensalz …« Er seufzte vor Behagen. Dann wurde er wieder sachlich. »Ich fürchte, Sie werden das mißbilligen.«

»Natürlich mißbillige ich nicht.« Sie war wieder als Partnerin zugelassen. Und ein bißchen Humor war besser als gar keiner.

Während sie auf die Wiedererscheinung des Schaumbades warteten, rief Professor Krawschensky den Projektleiter an, um ihm die gute Nachricht mitzuteilen. Der Projektleiter war begeistert, aber dabei eigenartig distanziert, als ob seine Aufmerksamkeit abgelenkt wäre, vielleicht von der Aussicht aus seinem Bürofenster. Doch Igor Krawschensky war heute nicht zu entmutigen. Er meldete sofort ein Gespräch nach London an. Jeder mußte die großartige Neuigkeit erfahren, selbst (ganz besonders?) der Gründer. Seit dem Debakel mit dem gescheckten Hund, hatte sich der Professor in eine beträchtliche Wolke des Schweigens gehüllt.

»Emmanuel? Igor am Apparat. Störe ich bei wichtigen Entscheidungen?«

»Nun, wenn du schon bei wichtigen Entscheidungen störst – was ist es diesmal? Erfolg, will ich hoffen. Oder totalen Fehlschlag.«

»Erfolg, Emmanuel. Selbst mit lebender Materie. Hundertprozentigen Erfolg.«

»Höre, Igor, diese Experimente mit lebenden Wesen gefallen mir nicht. Ich glaube, du überstürzt das alles.«

»Nur eine blaue Wasserlilie, Emmanuel. Nur eine Wasserlilie.«

Liza versuchte, nicht hinzuhören. Sie wollte nicht Zeuge werden, wie der Professor sich freiwillig erniedrigte. Und noch vor so einem Mann … Die Stimme des Gründers war jedoch so wenig zu überhören, wie man auch ein häßliches Tapetenmuster kaum übersehen kann.

»Eine blaue Wasserlilie – okay, Igor. Blumen sind okay. Aber laß dich nicht hinreißen. Keine Katzen, keine Hunde und, bitte, Igor, keine Menschen.«

»Natürlich nicht, Gründer.«

»Schön. Und jetzt mußt du mir erzählen – das Zuckerbrot –, jetzt mußt du mir erzählen, was du geschafft hast.«

Professor Krawschensky sagte es ihm. Sein Gesicht war verklärt. Der Gründer ließ eine lange Pause verstreichen und seufzte dann.

»Ach, ja, all das Kommen und Gehen, Igor. Das ist doch Zeitreise, nicht wahr? Du läßt Dinge verschwinden. Schön. Sehr clever. Später erscheinen sie dann wieder. Sehr schön. Sehr clever. Aber ich frage mich – ist das Zeitreise oder ist das einfach ein Verschwinden und Wiederauftauchen von Dingen? Beweise mir, daß das Zeitreise ist, und du machst mich zu einem sehr glücklichen Menschen.«

Der Professor schrumpfte zusammen. Er vergilbte gleichsam wie ein sterbendes Blatt. Er verbesserte nicht einmal die Wortwahl des Gründers.

»Ich werde versuchen, es zu erklären«, sagte er dann. »Das Schaumbad – wenn es ist, wo es ist, ist es jetzt dort. Es ist jetzt dort, sofort, schon im Augenblick des Übertritts in die chronomische Einheit, treibt dort auf dem chronomischen Fluß. Wir, die wir uns dem Fluß des Chronos, der Zeit, entgegenstemmen, holen es nur langsam ein. Es erscheint nicht wieder – sondern wir holen es ein.«

»Du solltest Vorlesungen halten, Igor. Das ist mein Ernst, Igor. Du meinst also, das Schaumbad steht die ganze Zeit über auf der Bühne, nur können wir es nicht sehen, nicht wahr?«

»Selbstverständlich ist es nicht so. Passen Sie auf, ich erkläre es Ihnen. Im ersten Moment steckt das Schaumbad auf der Zwei-Uhr-Bühne. Im nächsten Moment steckt es auf der Elf-Uhr-Bühne. Die Drei-Uhr-, Vier-Uhr-, Fünf-Uhr-, Sechs-Uhr-Bühnen existieren überhaupt nicht. Das Schaumbad braucht nicht zu warten. Für uns ist der Zeitzwischenraum neun Stunden lang. Für das Schaumbad gibt es überhaupt keine Zeit, die verstreicht.«

Warum mußte es ausgerechnet ein Schaumbad sein, fragte sich Liza. Der Dialog war auch schon banal genug.

»Ich will nicht behaupten, daß du mich hinters Licht führen willst, Igor.« Natürlich behauptete er das. »Wenn ich das begreifen würde, würde ich sogar sagen, daß es überzeugend klingt. Aber ich bin ein einfacher Mann, alter Freund – ich möchte Beweise haben. Tu mir den Gefallen, Igor. Beweise mir, daß dazwischen überhaupt keine Zeit verstreicht.«