»Ich fühle mich hier ganz isoliert, Doktor. Mein Hauspsychologe behauptet, das sei sehr schädlich. Es ist schon schlimm genug, daß ich aus meiner Aufsichtsrats-Etage verbannt bin, weil eine eifersüchtige Regierung sich grundsatzwidriger Mittel bedient. Doch dieser Kerker ist zu viel.«
Das war keine Alters-Paranoia. Er sperrte sich nur, um sich die Zeit zu vertreiben. Und Dr. Meyers war dagegen machtlos.
»Entschuldigen Sie, Mr. Littlejohn.« Das war der fünfte Anruf in einer halben Stunde. »Könnten Sie und Ihre Frau nicht die nächsten zwei Tage als eine Art Neuauflage der Flitterwochen betrachten?«
»Die Aufgabe meiner Frau besteht darin, junger Mann, mich zu verköstigen, zu verwöhnen und über meine Witze zu lachen. Dafür darf sie dann mein Geld ausgeben. Nicht wahr, mein Liebling? So eine Vereinbarung funktioniert nur, wenn die weitläufigen und luftigen Räume eines Millionärs zur Verfügung stehen. Doch zwei Tage des Zusammenlebens in einem Krankenzimmer dieser Art erfüllen den Tatbestand seelischer Grausamkeit.«
Darauf wußte der arme Dr. Meyer keine Antwort.
»Vielleicht mißbilligen Sie im stillen, daß ich sie mitgebracht habe, Doktor. Mein Hauspsychologe ist der gleichen Meinung. Es wäre viel weniger umständlich, wenn ich ihre Funktionen selbst übernähme. Doch meine Rechtsanwälte sind dagegen. Sie warnen mich vor den Konsequenzen des Ehegesetzes. Böswilliges Verlassen kann teuer zu stehen kommen. Also blieb mir gar nichts anderes übrig, Doktor.«
Ein paar Zimmer weiter machten sich Roses und Liza bereit, ins Bett zu gehen. Sie wußten nichts von Manny Littlejohns Einzug und den vielen Strapazen, die Dr. Meyer seinetwegen auszuhalten hatte. Der Tag war ruhig und friedlich verlaufen, wenn man von der kurzen Störung durch Professor Krawschensky absah. Da die beiden in der Isolierstation weilten, durften sie keine Besuche empfangen. Puls, Blutdruck, Blutzusammensetzung, Grundumsatz, Gehirnströme wurden automatisch aufgezeichnet, und ihre Ausscheidungsprodukte in einem entlegenen Labor automatisch analysiert. Das Essen wanderte durch luftdichte Schleusen. Liza nahm es im Krankenzimmer entgegen und servierte Roses und sich. Von Liza bekam Roses auch die gewissen Pillen, und er ging gehorsam in das angrenzende Badezimmer, wo Trinkwasser und ein Glas zur Verfügung standen. Liza hatte Freude daran, Roses zu bedienen. Und Roses nahm ihre Fürsorge hin, ohne darauf mit Schüchternheit oder Arroganz zu reagieren. Er war ein Mann, der in keiner Beziehung von anderen Menschen abhängig war. Trotzdem schien er sich über ihre Gesellschaft zu freuen. Solange er im Zimmer weilte, bewegte sie sich mit Vergnügen darin. Wenn er da war, schien es ihr sogar ganz natürlich zu sein, ein Kleid zu tragen.
Sie fragte sich nur, ob er auch den Frieden mit ihr teilte, der sie so beglückte. Das war schwer zu sagen. Er schien sie nicht anders zu behandeln als all die anderen Dorfbewohner, die sich nicht fordernd aufdrängten und ihm seine Freiheit ließen. Er lächelte sie an, er antwortete bereitwillig und erzählte ihr manchmal etwas aus freien Stücken. Doch meistens blieb er bei den Sachen, mit denen er sich gerade beschäftigte. Wenn dieser Tag irgendeinen Abschluß finden sollte, wie sie ihn erwartete, gab er das mit keiner Miene zu verstehen.
Sie putzte sich gerade die Zähne im Badezimmer, als er hereinkam. »Das hat meine Schwester auch getan«, meinte er stolz. »Und meine Mama ebenfalls.«
Sie erschauerte leise bei ihrer Assoziation. Hatte sie wirklich daran gedacht, ihn zu küssen? »Warum probierst du das nicht auch einmal, Roses? Die Zahnpasta schmeckt wunderbar.«
Er nahm ihr die Bürste aus der Hand, drückte auf den Knopf und sah zu, wie die Bürste sich drehte und hin und her bewegte. »Da ist dein Speichel dran«, sagte er dann. »Das gehört sich nicht.«
Doch er ließ sich von ihr die Zahnpasta geben und zeigen, wie man sich damit den Mund ausspülen konnte.
Sie verließ das Badezimmer und schloß die Tür hinter sich. Hoffentlich würde er sich jetzt waschen. Da sie kein Nachthemd mitgebracht hatte, behielt sie ihr Kleid an und räumte ein bißchen auf. Sie paßte die letzten Stücke in sein Puzzle ein, nahm sie dann aber wieder heraus. Sie wollte ihn nicht bevormunden, ihn sich nicht aneignen. Dann kam er aus dem Badezimmer. Er trug sein rotkariertes Hemd, sorgfältig über die Schenkel herabgezogen, und er kletterte so ins Bett, daß sie nur seinen Rücken sehen konnte. Dann legte er sich auf den Rücken, die Augen fest geschlossen. Liza schaltete das Licht aus und zog sich aus. Dann stieg sie in sein Bett. Es war jetzt oder nie.
»Was soll das sein?« Er hatte wenigstens keine Angst mehr, mit ihr zu reden, wenn sie in seinem Bett lag. O Gott, laß es nicht zu kompliziert werden!
»Ich liebe dich, mein Kleiner.« Das waren Worte, die er nicht mißverstehen konnte.
»Arr, oh, nun … davon weiß ich nichts.«
»Das hat nichts mit Wissen zu tun. So etwas fühlt und spürt man. Die Liebe gibt mir das Gefühl, daß ich hier neben dir liegen will.«
Es folgte ein langes Schweigen. Es war so lange, daß Liza schon glaubte, sie habe verloren. Alles verloren. Dann …
»Vielleicht sollst du dann doch lieber dableiben.«
Sie blieb.
Er spürte ihre Gegenwart. Sie verschlang ihn. Sie zog ihn in ihr Wesen hinein, so daß sie für ihn viel lebendiger und unmittelbarer existierte als alles, was er bisher gekannt hatte. Er war in ihr und an sie verloren. Sie verdrängte alles. Nur sie war noch gegenwärtig, der Druck ihres Körpers, der Geruch ihres Geschlechts.
Lange lag er da, ohne etwas denken zu können, in einem gefährdeten Gleichgewicht zwischen Begehren und Zurückhaltung. Ganz neue Empfindungen bedrängten ihn. Sein Atem, der viel zu heftig ging, übermäßiger Speichelfluß, das Geräusch ihrer klaffenden Lippen, seine Hand auf ihrem Schenkel, das Zittern ihrer Beine, wenn sie sich berührten. Er lag ganz still, nicht weil er sie fürchtete, sondern weil er glaubte, sein Herz müsse unter den hämmernden Schlägen zerspringen. Phantastische Bilder bedrängten seinen Verstand. Begehren und Beherrschung. Die Bilder wurden heller, deutlicher, phantastischer.
Er bewegte den Mund in der warmen, dunklen Luft. Das Begehren war stärker als je zuvor, überstieg zum erstenmal die Kraft seiner Selbstbeherrschung. Jetzt blieb nur noch die Ungewißheit, der Körper, der sich nicht wagte.
Er wagte nicht, sie aufzuhalten. Er wagte nicht, ihre Hand festzuhalten, als sie sich an seinem Hemd hinunterbewegte, den Saum zurückschlug und an seinem Schenkel hinaufkroch. Er wagte nicht, ihre Finger festzuhalten, als sie mit seinen Schamhaaren spielten. Und als sich die Finger schlossen, schlossen sie sich um sein ganzes Wesen, um jeden Knochen, jeden Muskel, jede Zelle seines Körpers, um jedes Haar, um jeden Gedanken. Sie schlossen jede Unsicherheit aus. Sie schlossen die Möglichkeit aus, daß sein Körper nicht wagen durfte, nicht wagen konnte. Er drehte sich im Dunklen um und stürzte sich auf sie.
Er schlief. Sie schluckte ihre Übelkeit gewaltsam hinunter, wagte nicht, ihren Kopf zu drehen, damit er nicht aufwachte. Ihr Mund blutete, und ihre linke Brust blutete. Auch der Muskel über ihrem linken Schulterblatt. Die Innenseiten ihrer weichen Schenkel waren wund. Sie konnte nur mühsam Luft holen. Sie fror und glühte gleichzeitig vor Scham. Sie war dankbar dafür, daß er schlief. Es gab nichts an ihm, das sie akzeptieren konnte. Stolz, Schuld, Arroganz, Buße, Vergnügen, Ekel, Anklage, Ausflucht, Paarung – nichts, was sie akzeptieren konnte. Er hatte sie zu ihrem Opfer gemacht. Sie hatte von ihm verlangt, daß er sie zu seinem Opfer machen sollte. Sie war dankbar dafür, daß er schlief, und wünschte sich, daß er nie mehr aufwachen sollte.