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VII

Roses war ein Tier der Morgendämmerung. Er erwachte, als das Licht noch fahl wasserblau und grünlich im kahlen Krankenzimmer hing. Er lag ein paar Minuten lang still, wie das seine Gewohnheit war, füllte langsam sein Bewußtsein mit Geräuschen, Gerüchen und Geschmack. Diese Rückkehr zum Leben war jeden Tag für ihn neues, freudiges Ereignis. Ein Wiederfinden vertrauter Dinge. Doch an diesem Morgen gab es auch etwas Unvertrautes. Er dachte darüber nach.

Er erinnerte sich, daß er in einem Krankenhaus war. Das war offenbar der wichtigste Grund seiner Befremdung. Nicht der feste, trockene Belag zwischen seinen Schenkeln, der das Haar dort verklebte. Nicht dieser eigenartige Geschmack im Mund und die leise Benommenheit. Er begriff jetzt, was das für ein Geschmack war, öffnete die Augen und erinnerte sich wieder. Er erinnerte sich, erinnerte sich so weit, daß es genügte … Nicht an jede Bewegung, jede Bedeutung, aber doch genügend. Erregung, Höhepunkt, Schrecken, Chaos. Er sah die schlafende Liza neben sich, sah genug.

Wie eine Katze stahl er sich aus dem Bett. Sie bewegte den Kopf, runzelte die Stirn, aber wachte nicht auf. Er zog seine Hose an, blickte dabei nicht auf den weißen, klebrigen Belag seiner Schande, und schlüpfte in seine ausgetretenen Turnschuhe. Er flüchtete aus dem Zimmer, durch die verlassenen Korridore, bis er einen Ausgang ins Freie fand, in den tröstlichen, unschuldigen Morgen. Tau glitzerte auf dem Gras. Die Strahlen der aufgehenden Sonne zogen silberne Fäden über jeden Halm. Die Luft war still und kühl. Roses nahm die Stille dankbar auf – er hatte die sommerliche Morgenbetriebsamkeit, die früher einmal das Tal erfüllte, längst vergessen. Er ging rasch die Hauptstraße hinunter, spürte die Rundung jedes Pflastersteines durch die dünnen Sohlen, sah die Häuser.

Als er den Dorfkai erreichte, hielt er an, denn dort patrouillierten zwei Sicherheitsbeamte. Sie sprachen ihn freundlich an, wunderten sich nicht, weil er schon so früh auf war, wunderten sich auch nicht, als er keine Antwort gab. Sie gingen weiter, überquerten die langen Schatten auf dem Dorfrasen und verschwanden zwischen der Chrononautenunterkunft und dem Dorfgasthaus. Ein Hund näherte sich freundlich und bekam ebenfalls keine Antwort.

Roses rannte die Rampe hinunter zum Strand. Dicht neben der Kaimauer zog er die Schuhe und dann die Hose aus. Er watete ins Wasser hinaus, achtete nicht auf die empfindliche Kälte. Als der Saum seines Hemdes das Wasser berührte, raffte er ihn mit einer Hand hoch und beugte die Knie, um sich zu waschen. Er blickte nicht zurück auf das Dorf – wenn man nicht sah, wurde man auch nicht gesehen. Er spürte keinen Ekel, als er sich anfaßte. Das kalte Wasser erstickte alles Triebhafte. Außerdem wußte er, daß seine Schande nicht einfach abgewaschen werden konnte. Nachdem er sich gewaschen hatte, ging er rückwärts wieder aus dem Wasser und ließ allmählich seinen Hemdsaum wieder sinken. Im Schutz der Mauer zog er sich die Hose über die kalte, unempfindliche Haut. Die Hosenbeine klebten an den nassen Haaren, und die Turnschuhe quietschten bei jedem Schritt.

Jetzt konnte er sich verstecken. Er ging heim in seine Küche, wo die jüngste Vergangenheit von den Assoziationen eines ganzen Lebens verdrängt werden konnten. Er versteckte sich hier nicht vor dem Dorf, nicht vor Liza, nicht einmal vor sich selbst. Er mußte sich eine Zuflucht vor den Ausbrüchen des Nicht-Selbsts suchen, vor dem grauenhaften Außer-sich-Sein, vor dem Begehren, dem er sich immer verschlossen hatte, seit er erwachsen war. Er mußte sich vor einem schrecklichen Traum verstecken.

Seine Katzen erwarteten ihn. Lautstark machten sie sich bemerkbar, stießen mit unverschämter Ungeschicklichkeit alles um, was ihnen im Weg stand, weil er sie volle zwei Tage lang vernachlässigt hatte. Er fütterte sie und vergaß bei den einfachen, vertrauten Bewegungen seinen Traum. Er sprach mit ihnen. Er nahm ihnen ihre Verachtung nicht übel, ihr ausschließliches Interesse für die Nahrung. Selbst die Katze, die ihn nicht zu kennen schien, der schwarze Kater, der wütend spuckte, während er sein Futter verschlang, störte ihn nicht. Katzen kamen und gingen. Für ein paar von ihnen war seine Küche nur eine Anlaufstelle, wo sie sich verpflegen konnten. Er starrte den Kater an, und er kam ihm irgendwie bekannt vor. Doch Katzen waren eben Katzen, eine Clique, wild, unabhängig, leicht zu besänftigen, aber nicht zu beeinflussen.

Er ging durch den Raum, nahm den Kalender vom Nagel in der Nische und hielt ihn ins Licht, damit er sich besser an seinen Vater erinnern konnte. Er schlang eine Decke um seine Knie und setzte sich in einen Klappstuhl, der mit rot und blau gestreiftem Stoff bespannt war. Achtunddreißig Jahre spannen einen dichten Kokon um ihn. Der Traum blieb draußen, war nicht länger sichtbar. Er hatte Krankenhäuser schon immer gehaßt.

Es war schon sechs Uhr, als die Nachtschwester, die alle Sichtschirme kontrollierte, entdeckte, daß Roses Varco verschwunden war. Sie weckte seine Zimmergenossin, Liza Simmons, konnte ihr aber keine brauchbare Auskunft entlocken. Selbst als Liza mit allen Reflexen da war, blieb sie in einem seltsam benommenen Zustand, seltsam einsilbig. Man ließ sofort das ganze Dorf durchsuchen.

Inzwischen wurden die analytischen Aufzeichnungen der Nacht ausgewertet. Obgleich Liza in einem leichten Schockzustand erwacht war, was auf ein einschneidendes, seelisches Erlebnis zurückzuführen war, das sie gegen elf Uhr in der vergangenen Nacht hatte, wie die Ausschläge auf dem Millimeterpapier bewiesen, war sie physiologisch gesehen völlig normal. Roses Varco ebenfalls. Bis zu seiner Flucht aus dem Krankenhaus um zehn Minuten nach fünf hatte er keine Krankheitssymptome gezeigt. Sofort ging ein Radiospruch hinaus. Da man Roses Varco sowieso an diesem Morgen entlassen hätte, war es nicht nötig, ihn ins Krankenhaus zurückzubringen.

Eine letzte Untersuchung konnte auch dort durchgeführt werden, wo man ihn aufstöberte. Da der Suchtrupp mit seiner Nachforschung in Roses’ Wohnung angefangen hatte, befanden sich die Beauftragten bereits an Ort und Stelle, als der Radiospruch eintraf.

Roses sah zu, wie sich die Wachleute und Ordonnanzen vom Krankenhaus miteinander berieten. Sie konnten mit ihm treiben, was sie wollten, solange sie ihn nur nicht wieder ins Krankenhaus schafften. Dieser Krankenhausaufenthalt war ein Trick gewesen, ein Verrat von … Doch die Dinge, die im Krankenhaus geschehen waren, mußte er vergessen, durften einfach nicht passiert sein. Ein Mann mit weißem Kittel stellte sich vor ihn hin und erklärte, was sie jetzt mit ihm tun würden. Roses hörte nur so lange zu, bis er die Gewißheit hatte, daß er nicht mehr ins Krankenhaus zurückkehren mußte. Danach nickte er nur noch lächelnd bei jedem Satz.

Um so erschrockener war er dann, als die Männer versuchten, ihm das Hemd auszuziehen. Schließlich mußten ihn vier Männer festhalten, während der fünfte die notwendigen Untersuchungen durchführte. Und die ganze Zeit über brüllte Roses wie ein Stier.

Liza Simmons wurde im Lauf des Vormittags entlassen. Auch sie schämte sich bei der letzten Untersuchung (wenn auch aus anderen Gründen als Roses Varco). Doch sie war zu diszipliniert, um ihre Scham zu zeigen. Sie hätte gern lautstark gegen die Rückschlüsse protestiert, die die Schwestern machten, als sie die Wunden und Blutergüsse sahen. Doch sie war zu gut erzogen, um sich etwas zu vergeben. Sollten sie sich doch denken, was sie wollten. Nein, sie sollten es eigentlich nicht, aber daran konnte sie auch nichts ändern. Sie war das Mädchen, das sich mit Roses Varco gepaart und mehr bekommen hatte, als sie erwartet hatte. Sie war … nun, man konnte es ja sehen. Sie ging mit hoch erhobenem Kopf aus dem Untersuchungszimmer, aus dem Krankenhaus. Doch über das, was sie erlebt hatte, konnte sie nicht hinwegkommen.