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Trotzdem bleibt eine Niederlage immer eine Niederlage, wie höflich und schonend man sie dem anderen auch beibringt. Und in einem Krieg, den keiner gewinnen kann, zieht eine Kampagne die andere nach. David Silberstein schritt mit gefurchter Stirn zurück in sein Büro. Wenn man ein Gefecht dadurch gewinnt, daß man nur auf einen Knopf drückt, ist das schon ein eigenartiges Gefühl. Diese Knöpfe waren doch nur ein Ausdruck seiner eigenen, persönlichen Ohnmacht. Selbst die Demonstration von Varcos Unzurechnungsfähigkeit war gelenkt worden und kam als Verdienst nicht auf sein Konto. Für manche Leute war die Tat ein Vermögen, sich das Leben einfach zu machen. Für David Silberstein gab es kein einfaches Leben.

Doch es war nicht ohne Hoffnung – oder etwa nicht?

Als David sein Büro erreicht hatte, gab er ein paar Befehle, die zusätzlichen Wasseraufbereiter einzuschalten, um den Unrat wieder aus dem Fluß zu filtern. Dann setzte er sich vor das Fernsehgerät, um die wütenden Angriffe der Ministerin für moralische Verantwortlichkeit auf der Mattscheibe mitzuerleben.

Im Labor war die Arbeit inzwischen zügig fortgeschritten. Man mußte schon Katastrophenalarm geben, um den Professor und Liza aus ihren Gedanken zu schrecken. Tatsächlich waren die beiden Wissenschaftler von dem Tumult am Kai viel weniger gestört worden als durch das Schaf, das von zwei verschwitzten Sicherheitsbeamten kurz nach dem Mittagessen eingeliefert wurde. Das aufgeregte Biest hat durch sein dauerndes Blöken die genaue Berechnung der chronomischen Koeffizienten sehr erschwert. Sie hatten an den Computerkonsolen gebrütet, während das Schaf auf der Bühne herumstampfte, schiß und die Flöhe in der sterilen Umgebung verstreute. Endlich hatte es sich wieder beruhigt und sich kauend hinter einen Ballen Heu gekauert, der von einem zweiten Stoßtrupp der Sicherheitstruppe herbeigeschafft wurde. Endlich stand es jetzt, in einem Spezialkäfig verwahrt, dösend und wiederkäuend, auf der Plattform, während die Beschleuniger auf Betriebstemperatur gebracht wurden. Liza fand diese lammfromme Haltung störend. Ein anderes Tier hätte in dieser Lage wenigstens nicht dauernd gekaut.

Sie schaltete die Pulsgeneratoren ein und stimmte sie mit den Bremsschwingungskreisen ab. Der Geräuschpegel war langsam, aber stetig gestiegen. Hier konnte man auch studieren, wo die Geräusch-Toleranzgrenze bei den höheren Säugetieren lag. Als der Heulton zunahm und den Start ankündigte, hörte das Schaf zu kauen auf. Liza war dem Tier dafür irgendwie dankbar. Selbst ein Schaf war nicht so dumm und gefühllos, wenn der Zeitpunkt der chronomischen Metamorphose sich ankündigte. Doch sie täuschte sich. Das Schaf hob lediglich den Schwanz und ließ erneut Böllerchen fallen, als der Start einsetzte. Das Schaf, der Schwanz und die Böllerchen flackerten kurz und waren verschwunden. In welchem erbärmlichen Zustand, dachte Liza, wechselte dieses Lebewesen in die Ewigkeit hinüber.

Die chronomische Einheit des Schafes war auf mindestens zehn Minuten angesetzt. Professor Krawschensky hatte Schwierigkeiten mit dem elektrischen Zeit-Schrittmacher. Die zweite Katze, die lohfarbene, war um fast drei Stunden falsch berechnet worden. Während Liza auf den Wiedereintritt des Schafes in die irdische Zeit wartete, studierte sie die Aufzeichnungen des Professors über die letzten beiden Experimente. In beiden Fällen war eine andere Ladung verwendet worden. Die erste Katze, der schwarze Kater, hatte eine nukleische Ladung erhalten, die ihn nur mit einer Abweichung von 0,01 Sekunde in die irdische Zeit zurückholte. Liza studierte auch die letzte Meldung des Veterinärs. Der schwarze Kater hatte nach schweren Anfangsstörungen (er war gleich nach dem Wiedereintritt in die irdische Zeit ausgerissen) wieder in ein normales Verhalten zurückgefunden. Er hatte guten Appetit, gute Reflexe und eine ausgezeichnete emotionale Verfassung. Seine Verfassung war identisch mit der des zweiten Versuchstieres, der lohfarbenen Katze, die mit einer peripherischen Zeitladung auf die Reise geschickt worden war. Doch die peripherische Ladung hatte eine Abweichung von drei Stunden gehabt. Deshalb schien das nukleische Verfahren nicht nur genauer, sondern auch vollkommen unschädlich zu sein.

Sie wußte natürlich, daß dieser Schluß verdammt voreilig war. Und sie wußte auch, daß von ihrem Urteil – ihrer Intuition – in naher Zukunft das Leben eines Chrononauten abhängen würde. Die Verantwortung dafür – außer dem Gesetz gegenüber – lag allein bei ihr. Und trotzdem konnte sie eigentlich an nichts anderes denken als an ihre Sinnlichkeit und deren verheerende Folgen. Während sie Seite für Seite das tierärztliche Gutachten las, sah sie immer das Gesicht des halbtierischen Wesens vor sich, das sie für ihre Sinnlichkeit ausgenützt hatte. Und die Unschuld dieses Tölpels machte ihn nur noch schuldiger, noch verachtenswerter. Ihr war es gleichgültig, ob ihre wissenschaftliche Arbeit ein Erfolg oder ein Fehlschlag wurde. Sie begriff lediglich, daß es nur noch ein Wesen in der Welt gab, das sie mehr haßte als sich selbst, und dieses Wesen war Roses Varco. Sie runzelte die Stirn und konzentrierte sich wieder auf das Kauderwelsch des Veterinärs.

Genau im richtigen Moment, dank des nukleischen Schrittmachers, kehrte das Schaf auf die Bühne zurück, ließ sein letztes Böllerchen fallen und kaute weiter. Professor Krawschensky war entzückt.

»Liza, Liza, was für einen Beweis brauchen wir denn noch? Für uns zehn Minuten, für das Schaf – nicht eine Sekunde – nicht einmal für das – äh –, was es eben tut.« Er räusperte sich und haspelte weiter: »Und sehen Sie doch nur, Liza, welche Ruhe, welche Einfalt! Kann bei dieser Ruhe etwa ein Verdacht auf Schädigung der Gehirnzellen aufkommen?«

Liza zweifelte im stillen, daß das Schaf über Gehirnzellen verfügte, denen man viel schaden konnte.

»Rufen Sie den Veterinär an, Kind. Sagen Sie ihm, er soll jemand hierherschicken, weil wir das letzte Experiment durchführen. Wir werden bald diese irdische Welt verlassen, Liza – für immer.«

Sie sah einen Funken greisenhafter Lust in seinen Augen, Offenbar regte der Erfolg seine Drüsen an. Sie fühlte einen leichten Schwindel, stand auf und ging ans Telephon.

»Und Ihre Frau natürlich auch, Professor«, sagte sie mit der vulgären Deutlichkeit einer Marktfrau. »Sie werden sie doch nicht vergessen, oder?«

Ihr Sarkasmus, ihr Mangel an Taktgefühl, schockierte ihn. Was hatte die Ehefrau mit seinem Erfolg zu tun? Seit wann besaß eine Ehefrau eine sexuelle Bedeutung? Liza wählte die Nummer des Tierarztes.

An diesem Morgen brauchte Roses Varco ganz besonders den besänftigenden Einfluß der gewohnten Umgebung. Er mußte wieder zusammenwachsen. Die Nacht, der Morgen darauf und auch der Nachmittag hatten ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Er brauchte eine Bestätigung, daß die Welt ganz anders war, als sie sich darstellte. Deswegen schulterte er am Abend seine Angelrute und ging zum Kai hinunter.

Da er den Badebetrieb vermeiden wollte, machte er sich ziemlich spät auf den Weg. Diese Vorsichtsmaßnahme war unnötig. Nach der Farce am Nachmittag lag eine bleierne Ernüchterung über dem Dorf. Badefreuden hielt man plötzlich für fin de siècle und für geschmacklos, obwohl das Wasser bereits wieder gereinigt war. Deshalb war der Kai verlassen, als Roses dort eintraf. Er stand einen Augenblick verloren da, schwitzte in der letzten Hitze des Tages. Der Schweiß brannte in den langen, blutigen Rissen an den Armen und Beinen, die von den Krallen seiner Katzen herrührten. Auch das Wetter störte ihn. Die Hitze hätte jetzt, zu Beginn des Herbstes, bereits nachlassen müssen. Der Rhythmus war irgendwie gestört. Er kratzte sich geistesabwesend an Armen und Beinen und setzte sich auf den Rand des Kais.