Er befestigte einen Wurm am Haken und warf die Angel aus. Es störte ihn nicht – oder vielleicht hatte er es gar nicht bemerkt –, daß sich schon seit Wochen kein Fisch mehr in der Nähe des Kais gezeigt hatte. Der Schwimmer pendelte im Wasser auf und ab. Die harte Steinkante schnitt ihm ins Gesäß. Es roch nach Seetang und, hinter ihm, nach Gras. Die Welt war wieder in Ordnung. Er vertiefte sich voller Behagen in dieses Gefühl der Beständigkeit, des Unwandelbaren.
Vertraut war ihm auch die Gegenwart von Edwin Solomons, David Silberstein, Daniel Jefferies, Liza Simmons. Jemand fand sich immer auf dem Kai ein, um neben ihm zu sitzen. Sie ließen ihn nur selten allein. Sie redeten mit ihm. Das meiste davon verstand er nicht, aber sie machten diese Woche wieder zu einem vertrauten Ablauf wie die Woche zuvor und die Woche, die davor lag.
»Hast du etwas gefangen?«
Sie fingen immer mit dieser Frage an. Roses zog den Rotz in der Nase hoch und stieß mit den Fersen gegen die Kaimauer.
»Ich kam zufällig hier vorbei. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich mich eine Weile zu dir setze, oder?«
»Es ist eine freie Welt.«
»Wirklich? Glaubst du das wirklich?«
Es war eine Redensart seines Vaters gewesen. Er bewegte sich unruhig. Sein Behagen war wieder etwas getrübt.
»Du glaubst das immer noch? Du hast doch miterlebt, was sich heute nachmittag abgespielt hat.« Das war David Silberstein, der zu ihm sprach, nicht einer von den anderen. Frei wofür? Frei, um dich selbst zu zerstören? Meinst du vielleicht das? – Roses summte immer die gleichen drei Töne und wartete darauf, daß der andere fortging. Normalerweise setzten sie ihm abends nie lange zu.
»Ich habe nicht Recht getan, Roses. Ich kam hierher, um dich um Entschuldigung zu bitten.«
»Entschuldigung? Warum entschuldigen?«
»Für heute nachmittag. Daß ich dich vor allen Leuten gefragt habe.«
»Oh, das. Das war nichts.«
»Doch, Roses. Du mußt begreifen, daß ich dich ausgenützt habe.«
Roses rieb sich die juckenden Stellen am Arm. »Verdammte Katze«, murmelte er.
»Roses, ich habe dich bloßgestellt – ausgenützt, weil … Roses, es gibt keinen Grund, warum du dich nicht mit Liza paaren solltest. Es gibt nichts, das dich daran hindern könnte.«
»Verrückt ist sie, glaube ich.« Er hörte nichts anderes, dachte an nichts anderes als an seine Katze. »Springt wie verrückt in der Küche herum. Läßt mich nicht an sich heran.«
»Roses, du mußt mich anhören. Liza und du, ihr habt natürlich das Recht, euch zu …«
»Werde jetzt lieber wieder gehen.« Er holte seine Angel ein. Er ließ sich nicht in die Enge treiben, um keinen Preis. »Hatte gedacht, wir beide wären echte Freunde. Da sieht man, man kann sich nicht darauf verlassen.«
»Roses, wovon redest du überhaupt?«
»Von meinem schwarzen Kater. Kann nichts mehr mit ihm anfangen. Ich glaube, er ist verrückt geworden. Sehen Sie mal die Kratzer.«
Er entblößte kurz seinen Unterarm und raffte dann sein Angelgerät zusammen. Er blieb keine Sekunde lang mehr hier, nicht, wenn er so in die Enge getrieben wurde.
David Silberstein starrte ihm nach. Seine Schuld an Roses war viel leichter zu ertragen als die namenlose Furcht, die Sir Edwin ihm hinterlassen hatte. Aber war es nicht pervers, sich selbst zu erniedrigen, um sich zu entschuldigen? Um eine Eifersucht zu bannen, die sich nicht verbannen ließ? Dieser Mann hatte kein Recht, sich mit Liza zu paaren. Überhaupt kein Recht!
Er hatte Liza nicht mehr gesehen, seit sie das Krankenhaus verlassen hatte. Er wollte sie auch gar nicht sehen. Seine Phantasie raste: zwei Nächte, zwei gemeinsame Nächte zwischen sauberen Laken. Er beobachtete, wie Roses durch das Gattertor des Labors ging, breite Schultern, die Liza unter sich begruben, Hüften, die über ihr kreisten. Er starrte auf den Fleck, wo Roses gesessen hatte, und hörte den stöhnenden Laut von Lizas Ekstase. Er konnte sich mit dieser Vorstellung geißeln, mit der Vorstellung von Liza und Roses, solange er lebte … Er zwang sich, an anderes zu denken, hörte leises Gelächter im Dorf, das Klappern einer Heckenschere, das Rauschen eines Fernsehgerätes.
Er würde freundlich zu Roses sein, so freundlich, wie er sich eben verhalten hatte. Es war eine Beruhigung für ihn, zu Leuten freundlich sein zu können, die man haßte. Er erhob sich langsam, Gelenk für Gelenk, und ging heim zu Mrs. Berman.
In der vergangenen Nacht fanden zwei Überfälle auf das Dorf statt. Sie waren nicht harmlos wie die Idiotie vom Nachmittag. Die Angreifer stiegen über den Zaun, schlossen ihn auf primitive Weise kurz und machten gar keinen Versuch, den versteckten Sensoren auszuweichen. Es waren ortsansässige junge Leute. Der Grund ihres Eindringens war eindeutig. Sie hatten Angst, waren aufgeputscht, haßten das Dorf. Die erste Gruppe der Angreifer wurde ein paar hundert Meter innerhalb der Dorfgrenze mit Sprühgas außer Gefecht gesetzt. Dann wurden sie desinfiziert und behutsam zu der Straße getragen, die auf dem Kamm des Hügels in der Nähe des Zaunes vorbeilief. Die zweite Welle der Angreifer war schon viel besser vorbereitet. Sie trug Gasmasken und Schutzkleidung.
Sie wurde von Sicherheitsbeamten eingekreist und mit Hitzeschaum besprüht, der an ihren Kleidern hängen blieb. Obwohl der Schaum eine durchaus noch erträgliche Temperatur entwickelte, steckten sich die Getroffenen gegenseitig mit ihrer Hysterie an. Ihre Schreie waren im ganzen Tal zu hören. Sie taumelten im Dunkeln umher, rissen sich die Kleider vom Leib und schienen fest davon überzeugt, daß man sie bei lebendigem Leibe verbrennen wollte. Es war nicht schwer, die Leute einzufangen, zu behandeln und dann für ihre Rückkehr nach St. Kinnow vorzubereiten.
Das Geschrei weckte Manny Littlejohn, der in seinem Quarantänelager im Krankenhaus nichts zu befürchten hatte. Er rief sofort David Silberstein an, um sich zu erkundigen, was das Geschrei zu bedeuten habe. Er war beruhigt, als er erfuhr, daß sein Projektleiter die Lage vollkommen unter Kontrolle hatte. Er legte sich wieder in die Kissen zurück, doch das Schreien hielt an. Noch einmal wählte er Silbersteins Nummer und beklagte sich. Er konnte nur sehr schwer einschlafen, und da man ihn jetzt geweckt hatte, würde er bis zum Morgen wach bleiben müssen. Der Projektleiter sagte, das täte ihm schrecklich leid.
Manny Littlejohn legte den Hörer wieder auf und stieß seiner schlafenden Frau den Ellenbogen in die Rippen. Ihr Friede, die feste Rundung ihres jungen Körpers, ging ihm auf die Nerven.
»Du schnarchst, Margot. Während Männer im Dorf verbrennen, schnarchst du. Du solltest dich mehr zusammennehmen.«
»Leute verbrennen?« Sie setzte sich auf und horchte in die Nacht hinaus. Das Geschrei war schon vor Minuten verstummt, und draußen war alles still. Vielleicht war das Ganze nur wieder einer seiner Scherze. Sie legte sich wieder hin. »Schnarche ich tatsächlich?«
»Wie ein Schwein.« Sie schnarchte nie. Ihr Mann hingegen schnarchte so arg, daß manchmal am Morgen sein ganzer Hals entzündet war. »Manchmal gefällt es mir, dann komme ich mir nicht mehr so allein vor. Und ich zähle die Schnarcher wie andere Leute die Schafe. Das hilft mir beim Einschlafen.«
»Du bist ein sonderbarer Mann.«
Sie streichelte seinen Arm. Sie hatte ihn lieber, als sie sich das einzugestehen wagte. Sie hatte so getan, als hätte sie ihn nur seines Geldes wegen geheiratet. Er schien das ja von ihr zu erwarten. »Weshalb hast du mich dann geweckt?« fragte sie.
»Das habe ich dir doch schon gesagt, Mädchen. Weil die Männer geschrien haben.«
Margot dachte über seine Antwort nach. Vielleicht war es tatsächlich einer seiner Scherze. Vielleicht hatte er auch nur schlecht geträumt. Sie drängte sich näher an ihn, legte ihre Arme um seinen greisenhaften Brustkorb. Sein Herz schlug unter der schlaffen Haut in der Pause zwischen ihren Herzschlägen, und sie schob die Arme höher, bis sie seinen Puls nicht mehr spürte. Er stellte das Leben dar, wie es ohne schöne Larve war, schrecklich verletzlich, ein Mechanismus, der sich gerade noch behauptete. Sie mochte ihn zu sehr, als daß sie daran erinnert werden wollte.