In diesem Moment griff ein neuer Gedanke in den Wettkampf der Gefühle ein. Bis jetzt waren die Dinge in Roses’ Leben einfach gestorben. Es gab keinen Grund dafür. Er hatte auch nie nach Gründen gesucht. Sie starben eben. (Nur sein Vater hatte sich natürlich im Wald selbst umgebracht.) Doch hier lag der Fall anders. Alle Dinge, mit denen Professor Krawschensky sich befaßte, starben. Sie starben nicht einfach, sie starben, weil Professor Krawschensky mit ihnen zu tun gehabt hatte. Und Professor Krawschensky hatte auch den alten schwarzen Kater in den Fingern gehabt. Roses hob die tote Katze auf, trug sie in die Küche und legte sie auf den Küchentisch.
Er setzte sich vor die tote Katze und starrte sie lange an. Er blickte ihr in die offenen, toten, milchigen Augen und berührte hin und wieder das platte Fell. Es war die Schuld des Professors. Natürlich war es seine Schuld. Fragte sich nur, was er, Roses, daran ändern konnte.
»Das ist eine ganz besonders günstige Nachricht in Anbetracht der neuen Verfügung der Regierung«, sagte David Silberstein zu Professor Krawschensky, als er ihn kurz vor der Mittagspause in seinem Labor besuchte. »Mit Glück und Geschick werden wir sie noch ein paar Tage hinhalten können – lange genug, daß jeder in die Zukunft auswandern kann, der auszuwandern wünscht.«
Er sprach nur darüber, weil er eine passende Überleitung brauchte, um dann den Professor beiseite zu nehmen und ihm die Fragen zu stellen, die ihn wirklich interessierten. Der alte Mann starrte ihn betroffen an.
»Verfügung der Regierung? Was für eine Verfügung?«
»Oh – ich dachte, der Gründer hätte Sie bereits davon unterrichtet.«
»Nicht mit einer Silbe!«
»Wir werden dazu gezwungen, das Dorf aufzulösen. Nicht nur wir – alle Forschungsstätten. Es ist ein Versuch, die Öffentlichkeit zu besänftigen. Forschung ist seit dem Ausbruch der Cholera-Seuche ein schmutziges Wort geworden. Das ist natürlich alles auf die Hetzreden dieser Mrs. Lampton zurückzuführen.« Er lächelte nervös. Jeder, der auswandern wollte, konnte auswandern … Stimmte das? Wollte er wirklich in die Zukunft verreisen, wenn es von dort kein Zurück mehr gab? »Ich habe gehört, daß man sogar eine Fabrik in Sussex geschlossen hat, die ein Impfserum gegen den mutierten Erreger dieser Seuche entwickelt. Mag was dran sein. Auf jeden Fall traue ich dieser Dame alles zu.«
Professor Krawschensky sammelte seine verstreuten Gedanken zusammen. »Also haben wir nicht viel Zeit, wie? Zwei Tage, sagten Sie?«
David nickte. Er hatte den Eindruck, daß der Professor sich Lizas wegen so eingehend nach ihrer Galgenfrist erkundigte. Als Liza sich abrupt umdrehte, wußte er, daß sein Eindruck richtig war.
»Zwei Tage, wenn wir Glück haben«, sagte er. »Der Gründer will sich der Forderung zwar nicht beugen; aber er kann tatsächlich nichts dagegen unternehmen. Nicht gegen Luftlandetruppen, die im äußersten Fall von der Regierung eingesetzt werden können. Und sie warten ja nur darauf, daß sie an uns ein Exempel statuieren dürfen.« Er nahm Professor Krawschensky beim Arm. Er hatte genug geplaudert. Schließlich war er ja Projektleiter. »Ein Wort im Vertrauen, wenn Sie etwas Zeit für mich haben, Professor, ja?«
Sie gingen in das kleine Büro des alten Herrn. Liza interessierte sich nicht dafür, was die beiden zu besprechen hatten. Sie arbeitete verbissen weiter. Wenn sie sich bis jetzt noch der Illusion hingegeben hatte, sie könnte das Experiment am Nachmittag noch aufhalten, so konnte sie jetzt jede Hoffnung begraben. Sie konnte nur noch – wissenschaftlich und vielleicht auch menschlich – ihr Bestes geben.
Das winzige Büro erinnerte David an einen Beichtstuhl. Er teilte dem Professor seine Befürchtungen mit, und der Professor hörte geduldig zu. Als David ausgeredet hatte, saß der alte Mann noch eine Weile stumm da. Wahrscheinlich bereitete er, wie das alle Beichtväter tun, irgendeine Ausflucht vor. David wäre am liebsten wieder aufgestanden und gegangen – er hätte schon vorher wissen müssen, daß die Besprechung nur Zeitverschwendung sein würde. Doch an wen sollte er sich sonst wenden?
»Das ist ein altes Argument«, sagte der Professor schließlich und legte die Fingerspitzen gegeneinander, »ein Argument, auf das ich keine positive Antwort geben kann. Alles, was Sie sagen, ist wahr. Trotzdem …« Er runzelte die Stirn und verdrehte die Augen nach oben, so komplex war das Rätsel, das er David erläutern wollte. »Trotzdem geht man ein großes Risiko ein, wenn man die Logik einer Disziplin auf eine andere Disziplin überträgt. Nehmen wir zum Beispiel das zweite thermodynamische Gesetz. Dieses wohlbekannte Gesetz, das Prinzip der Entropie, besagt, daß in jedem System eine Ordnung aus den Fugen gerät, wenn sie nicht von etwas aufrechterhalten wird, das von außen auf das System einwirkt. Ein allgemeiner Grundsatz, der offenbar selbstverständlich ist – bis man ihn auf das Leben anwendet und alle lebenden Wesen überhaupt. Dann wird aus diesem Grundsatz barer Unsinn. Auf dem Gebiet der lebendigen Formen sehen wir Strukturen, die seit zahllosen Generationen ihre festen Formen und Funktionen beibehalten haben.«
Er ließ eine lange Pause verstreichen. Das war seine Trumpfkarte – seine einzige –, und er wollte sichergehen, daß man sie gründlich betrachtete. Draußen im Labor schwirrte und ratterte inzwischen der Bohn-Computer und rechnete für Liza die Mathematikaufgaben eines Jahres in zwei Sekunden aus.
»Wir machen also die Erfahrung, mein lieber Projektleiter, daß ein unumstößliches Gesetz auf dem einen Gebiet auf einem anderen Gebiet wieder ein vollkommener Unsinn sein kann. Wir wissen eben so wenig … und über die Natur des Chronos wissen wir so gut wie nichts.«
»So?« David war wütend auf sich selbst, weil er sich an einen Strohhalm geklammert hatte.
»Mein lieber Freund; wenn Sie meiner Logik nicht gefolgt sind …«
»Natürlich bin ich ihr gefolgt. Sie haben gesagt, Sie wissen es nicht.«
»Eine begreifliche Einstellung, finden Sie nicht auch? Auf einem Gebiet der Wissenschaft, die erst seit drei Jahren existiert, ist eine andere Einstellung gar nicht möglich.« Ein geduldiges Lächeln, ein leises, bedauerndes Zucken der schütteren Augenbrauen. »Wir Wissenschaftler werden so oft der Arroganz beschuldigt. Doch da sitzen Sie und beschweren sich, wenn ich ein vollkommen menschliches, bescheidenes Geständnis meiner Ignoranz ablege.«
Das war natürlich so manipuliert, eine so rhetorische Schaumschlägerei, daß David sich darauf jede Antwort sparte. Er stand auf. Er hätte gar nicht erst fragen sollen.
»Ein bißchen Wagemut und Sinn für das Abenteuer, Projektleiter. Eine Bereitschaft, das kalkulierte Risiko auf sich zu nehmen – ist denn das wirklich zu viel verlangt?«
Nein, nein, es war nicht zuviel verlangt. Er hatte wirklich schon gehen sollen, ehe er seine Schwächen bloßgelegt hatte. Vielleicht hatte er früher mal einen Sinn für Abenteuer besessen (nicht auf der Universität – schon früher, als er auf dem Fahrrad seines Bruders den Berg von Leckhampton hinuntergefahren war). Bestimmt besaß er diesen Sinn heute nicht mehr. Und was das kalkulierte Risiko anlangte – würde Liza heute nicht seine Geschlechtspartnerin sein, wenn er ein einzigesmal ein kalkuliertes Risiko eingegangen wäre?
»Vielen Dank, Professor. Eine heilsame Erinnerung. Ich konnte sie wirklich gebrauchen.« Er ging zur Tür und drehte sich dann noch einmal um. »Ich freue mich schon darauf, das Experiment heute nachmittag als Zeuge miterleben zu dürfen, Professor. Ein historischer Augenblick. Wenn ich vorher keine Gelegenheit mehr habe, Sie noch zu sprechen – viel Glück.« Den Projektleiter kosteten Komplimente nichts. »Und nochmals vielen Dank.«