»Warum hast du die Katze hierher gebracht?« fragte sie. »Wir wollen sie hier nicht haben. Bringe sie sofort wieder weg!«
»Ihr stellt mit Tieren Sachen an, daß sie sterben. Das ist nicht recht.«
»Unsinn. Das ist nicht eines von unseren Versuchstieren. Die Katze, die wir verwendet haben, ist lebendig und wohlauf. Geh doch zum Veterinär, wenn du mir nicht glauben willst!«
»Erinnerst du dich nicht mehr, daß die Katze ausgerissen ist? Erinnerst du dich nicht, wie sie im Garten herumgesaust ist? Immer im Kreise herum? Erinnerst du dich …«
»Verschwinden Sie!« David Silberstein konnte Roses nicht mehr länger ertragen. »Sie sind ein Störenfried! Verschwinden Sie und lassen Sie sich hier nicht mehr sehen!« Es kamen jetzt Dinge zur Sprache, die er nicht mehr hören konnte. Für die er selbst verantwortlich war. »Hinaus, sagte ich! Gehen Sie zurück in Ihr Loch!«
Doch vom Gründer kam der Gegenbefehclass="underline" »Nein, warte!«
Zwei Worte, nicht besonders laut oder befehlend gesprochen, die absolute Autorität dadurch nur bestätigend. Keiner rührte sich. Der Gründer war jetzt ausgeruht. Er erhob sich von seinem Stuhl und ging fast leichtfüßig auf Roses zu. Er betrachtete den Kadaver und sagte: »Ein hübsches, junges Tier. Offenbar unverletzt und auf der Höhe seiner Lebenskraft.« Dann, über die Schulter: »Ein Opfer der nukleischen Schrittmacher, Igor?«
»Bestimmt nicht, Gründer. Sie haben gehört, was Liza gesagt hat. Alle unsere Versuchstiere sind …«
»Können wir uns in dieser traurigen Auseinandersetzung nicht wenigstens die Wiederholungen sparen, Igor?« Der Gründer seufzte und blickte auf die Uhr. Draußen im Dorf verebbte der Gefechtslärm. Die Sicherheitsbeamten hatten mit ihrer fahrbaren Barrikade die Angreifer zum Strand zurückgedrängt. Ein bewaffneter Eindringling, der fast bis zum Labor vorgedrungen wäre, war tot. Der ganze Spuk hatte keine fünf Minuten gedauert. Der Gründer verglich seine Armbanduhr mit der Uhr am Hauptcomputer. Die letzten dreißig Sekunden von Rachel Mosers »Zeitreise« waren angebrochen.
»Ein historischer Augenblick, Igor. Ich hatte mir so gewünscht, daß wir beide auf diesen Moment stolz sein könnten.«
In einem zeitlosen Irgendwo (Irgendwo?) begannen die nukleischen Schrittmacher in Rachel Mosers Zellstrukturen sich zu regen. Sie reaktivierten den angeborenen Brems- oder Puffermechanismus, so daß Rachel Moser langsamer wurde, dem chronomischen Fluß Widerstand leistete, in das irdische Gleichgewicht zurückgerissen wurde. In dem Augenblick, als die Schubkraft ihrer Molekularstrukturen gegen den stetigen Strom der Chronoküle genau der Schubkraft des irdischen Universums entsprach, tauchte sie wieder auf der Bühne auf, pünktlich bis auf eine Hundertstelsekunde.
Sie saß hübsch und bescheiden auf ihrem Stuhl, der Gesichtsausdruck noch genauso wie vorhin, ohne Zeichen von Schmerz, Vergnügen oder Überraschung. Sie war sich nicht bewußt, daß inzwischen fünf Minuten verstrichen waren, weil es für sie diesen Zeitraum nicht gab. Sie war jetzt genau fünf Minuten jünger als alle Menschen, die im gleichen Moment wie sie geboren worden waren.
Und dieser Moment der »Zeitlosigkeit« ging jetzt natürlich zwangsläufig vorüber. Andere Momente folgten, brachten Verwirrung, brachten Schmerzen.
»Kopf.« Sie runzelte die Stirn, hob die Hände, preßte sie gegen die Schläfen, schloß die Augen, riß sie wieder ganz weit auf. »Es tut weh – oh, tut das weh …«
Der Arzt stürzte zu ihr. Noch bewegte sich keiner von den anderen Zeugen. Er nahm ihr Handgelenk, kauerte sich vor ihr nieder, blickte ihr in die Augen. Sie erkannte ihn wieder, versuchte zu lächeln.
»Doktor … ich … ich müble und misch mascht … es mascht mich …«
»Sprechen Sie jetzt nicht! Schließen Sie die Augen und entspannen Sie sich. Versuchen Sie nicht zu reden …«
»Esch hilft mir. Esch …« Sie versuchte aufzustehen; aber es gelang ihr nicht. »Doktor, es wird mir mübel – nein – es mascht mich schwimblig. Nein – Sie muschen – muschen -«
Ihre Sprache verlor jetzt jede Form und jeden Zusammenhang. Der Arzt half ihr vom Stuhl hoch. Sie verstummte und lächelte jetzt nur noch, lächelte jeden an, der im Labor diesen historischen Augenblick miterlebte. Sie deutete auf ihren Mund und schüttelte, immer noch lächelnd, den Kopf.
»Mübel«, sagte sie, »mübel?«
Wer sollte diese Frage beantworten können? David Silberstein fing an zu weinen. Wenn Rachel Moser wenigstens nicht dauernd gelächelt hätte. Sie zuckte mit den Schultern, bewegte sich schwerfällig die Stufen von der Startbühne hinunter. Im gleichen Moment läutete das Telephon.
Manny Littlejohn erreichte den Apparat als erster. »Hier spricht der Gründer.«
»Mr. Littlejohn?« Der Tierarzt war am Apparat. Manny Littlejohn schaltete rasch den Lautsprecher ab, damit nur er verstehen konnte, was der Mann ihm zu melden hatte. »Mr. Littlejohn, ich bin mit der Autopsie des Schafes soeben fertig geworden. Ich hatte von Anfang an einen Gehirnschaden vermutet. Deshalb …«
»Ich weiß«, unterbrach Manny Littlejohn, »ich weiß.«
»Schwere Schäden in allen Gehirnsubstanzen, wo die Intelligenz …«
»Ich weiß es. Wir wissen es. Geben Sie mir Ihren Befund schriftlich, ja?«
»Aber, Gründer, ich habe jetzt den Beweis von einem progressiven Zellenzerfall im Gehirn höherer Lebe …«
»Schriftlich, wenn ich bitten darf, junger Mann!« Er seufzte, wappnete sich für einen Nachsatz, den er unbedingt anbringen mußte: »Und außerdem hätten Sie uns das früher mitteilen müssen. Ja. Sofort, als das Tier starb. Jetzt ist es bereits zu spät.« Er fragte sich, ob er dem Tierarzt nicht zu viel zumutete. »Ich weiß zwar noch nicht, wie ich jetzt verfahren werde; aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Ihren Namen vielleicht gar nicht erwähnen müssen. Ja, ja.«
Er hängte ein und drehte sich langsam den anderen zu. Er begegnete Lizas Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Hinter ihr stützte der Arzt Rachel Moser, die immer noch ein verwirrtes, verlorenes Lächeln auf ihrem Gesicht trug. »Der Tierarzt war am Apparat«, sagte der Gründer. »Er hat mir gemeldet, daß das Schaf gestorben ist.«
Er brauchte nichts mehr hinzuzusetzen. Jetzt mußte er bereits an die Folgen dieser katastrophalen Panne denken. Er blickte Rachel Moser nach, die sich nur noch stolpernd vorwärtsbewegte.
»Ich habe den Eindruck«, sagte er dann, »daß die nukleische Methode als brauchbare Lösung den Beweis schuldig geblieben ist. Würden Sie mir in diesem Punkt recht geben, Igor, alter Freund?«
Inzwischen stolperte Rachel Moser die letzten Stufen der Labortreppe hinunter. Sie spürte die Sonne auf ihrem Gesicht und in ihrem Kopf den Anfang einer namenlosen Angst. Sie hängte sich noch fester beim Doktor ein und lächelte ihn an. Lächelte in eine dunkle Welt. Lächelte und nickte, den Kopf ein wenig schief gelegt.
IX
Roses Varco besaß die seltene menschliche Eigenschaft, überflüssig zu sein. Er war nicht wie die anderen: Er wußte nicht, was die anderen wußten; er fühlte nicht, was die anderen fühlten.
Und wenn das Schlimmste zum Schlimmsten kam (obgleich das natürlich nicht passieren durfte), würde ihm keiner eine Träne nachweinen. Als menschliches Versuchskaninchen für die peripherische »Zeitreise« leistete er wahrscheinlich seinen ersten und voraussichtlich einzigen großen Dienst für die Menschheit.
Er saß ganz ruhig auf der Startbühne, nicht im geringsten im Bilde, weshalb und wofür. Sein Weg hierher war so unerbittlich vorgezeichnet, wie der Sonnenaufgang am Morgen, seitdem Manny Littlejohn sich dafür entschieden hatte, daß Penheniot der ideale Ort für sein Forschungszentrum wäre. Und nun, da er es endlich geschafft hatte, war keiner über seine Rolle erstaunt. Sein Daseinszweck war jetzt offenkundig, der Grund, weshalb er auf die Welt gekommen war.