Nachdem Dr. Meyer ihn gewogen, untersucht und für vollkommen gesund erklärt hatte, saß er jetzt auf der Startbühne und hörte sich die komischen Geräusche an, die sein Puls in seinen verstopften Ohren erzeugte. Er schluckte seinen Speichel, sah sein Gesicht ein dutzendmal auf den Linsen kopiert, und alle Leute waren so nett zu ihm, was ihm ganz gut gefiel. In den Köpfen der Spezialisten, die ihn umringten, herrschte eine beruhigende Ungewißheit darüber, wer von ihnen zuerst vorgeschlagen hatte, ihn als Versuchskaninchen zu verwenden. Zweifellos war es eine Gruppenentscheidung gewesen, streng demokratisch, das Ergebnis einer unbewußten Übereinstimmung, die aus der gegebenen Lage zwangsläufig herauswachsen mußte. Nicht, daß das jetzt noch eine Rolle gespielt hätte. Oft lagen im Leben ein Mangel und eine Möglichkeit, ihn zu beseitigen, dicht nebeneinander. Und da die Hauptgefahr bei der chronomischen Fahrt in die Zukunft in einem möglichen Gehirnschaden bestand, war es doch nur vernünftig, daß man Roses als Versuchskaninchen benutzte, den man kaum als ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft – selbst in der Blüte seines Lebens nicht – bezeichnen konnte.
Falls die geringe Zuverlässigkeit des peripherischen Schrittmachers Roses weit über sein zeitliches Ziel hinausschießen lassen sollte, hatte man für ihn in aller Eile ein Plakat vorbereitet, das jetzt auf seinem Rücken hing. Ich komme aus dem Jahre 1988. Ich bin kein typischer Vertreter meiner Zeit. Bitte, schicken Sie mich zurück, wenn Sie das können, und schreiben Sie auf dieses Plakat, ob noch mehr von meinen Zeitgenossen bei Ihnen willkommen sind und welche Lebensbedingungen sie bei Ihnen antreffen werden. Ich stelle in keiner Weise eine Bedrohung für Sie dar. Nehmen Sie mich bitte freundlich auf. Niemand zeigte ihm den Text, der auf dem Plakat stand. Es hätte zu lange gedauert, ihm den Text zu erklären.
Nach einem kurzen protokollarischen Streit zwischen Professor Igor Krawschensky, dem wissenschaftlichen Direktor des Forschungsdorfes Penheniot, und dessen Gründer, Manny Littlejohn, wurde das Plakat unterzeichnet. Das Plakat drückte etwas und scheuerte am Hals. Doch man fuhr ihn barsch an, als er versuchte, es zu entfernen.
Liza arbeitete konzentriert am Computer. Sie berechnete die Werte, die sie aus dem peripherischen Schrittmacher wußte. Sie war nicht ganz zufrieden mit sich selbst. Sie hatte heftig protestiert, die unverletzlichen Grundrechte des Menschen zitiert und dabei heimlich mit der Faust Roses einen Stups in den Rücken gegeben, damit er sich schneller auf die Startbühne zubewegte. Sie wußte, was sie ihm angetan hatte. Daß David Silberstein sich an dieser Entscheidung beteiligte, machte die Lage nur noch schlimmer. Und jetzt berechnete sie die Ladung des Schrittmachers … Sie tastete das Gewicht und die Koeffizienten der Molekularstruktur ein. Sie fügte die üblichen 50 Prozent Toleranz als Sicherheitsfaktor hinzu. Dann betrachtete sie die Zahlen und blickte zu Roses hinüber, der schwitzend auf der Startbühne hockte. Er verrenkte den Hals und versuchte, die Inschrift auf dem Plakat zu lesen. Liza löschte die 50 Prozent Sicherheitszugabe wieder aus und tastete 75 Prozent ein. Es war wichtig, daß er keinen Schaden nahm – jetzt, wo alles zu spät war. Um ganz sicher zu gehen, verbesserte sie auf 80 Prozent. Oder vielleicht legte sie nur die 5 Prozent zu, weil er so verletzbar aussah. Oder vielleicht auch nur, weil sie sich schämte. Hätte man ihm wenigstens nicht sagen können, was man von ihm verlangte? Und ganz zuletzt, ganz verstohlen, erhöhte sie den Sicherheitsfaktor auf 85 Prozent, um ihr schlechtes Gewissen ein wenig zu erleichtern.
Als Professor Krawschensky Roses Varco ins Auge faßte, sah er nur Haut, Haare und Kleider. Er sah das Muskelfleisch und die Knochen darunter, die aus zehntausendmillionen Atomen bestanden, die sein eigentliches Problem darstellten. Manny Littlejohn sah weder die Haut noch die Haare, sondern nur die Verwirklichung eines Traumes, die Apotheose von Manny Littlejohn und David Silberstein … Während David Silberstein Roses Varco auf dessen Stuhl betrachtete, blickte er durch all diese Nebensächlichkeiten hindurch auf ein breites Lotterbett, auf dem er sich mit Liza den ganzen Tag lang wälzte und paarte. Er glaubte fest daran, daß er einen Mord beging. Daß Roses Varco genauso sterben würde wie alle Versuchskaninchen des Professors vor ihm. Daß er, David Silberstein, als Mitwisser eines Mordes sich um Lizas Willen als Komplize hergab und sich deshalb zum ersten Mal stark fühlte, nicht nur als Zuschauer, sondern als würdiger Liebhaber von Liza, der einzigen Frau, die er jemals geliebt hatte. Die Wollust, die sich aus solchen Quellen speiste, mußte himmlisch sein, paradiesisch, jede Vorstellungskraft seiner Fantasie übersteigend. Aus der Todesqual von Roses würde für ihn eine goldene Zukunft aufsteigen, eine wonnige Folge von Tagen und Nächten mit Liza. Dieser verfluchte Kerl hatte schon immer mehr Umstände gemacht, als er wert war.
Roses gab es auf, auf das Plakat zu schielen, das an seinem Hals befestigt war. Er beugte sich vor und zog die Zehen ein, daß sie nicht aus den Löchern in seinen Turnschuhen hervorlugten. Hätte er vorher gewußt, daß so viele Leute ihn anstarren würden, weil er mitten im Zimmer auf einem Stuhl saß, hätte er sich vorher …
»Lehnen Sie sich bitte zurück, Mr. Varco!« dröhnte es in seinen Ohren, während sein Puls träge weiterpochte. »Lehnen Sie sich bequem zurück und halten Sie die Füße still ja?«
»Wie beim Friseur?«
»Richtig, wie beim Friseur.«
Er wußte genau, wie es bei einem Friseur zuging. Man hatte zwei Leute gebraucht, um ihn zum Friseur zu schaffen – schließlich hatte er sich die Haare all die Jahre über selbst geschnitten –, aber beim drittenmal hatte es ihm auf dem Friseurstuhl ganz gut gefallen. Er war sich wichtig vorgekommen, und der Friseur hatte einen viel größeren und besseren Spiegel als er zu Hause an der Küchentür. Deshalb lehnte er sich jetzt bequem zurück und drehte Däumchen, wie ihm das seine Mutter beigebracht hatte und wie er das immer tat, wenn er beim Friseur warten mußte, bis er dran war.
Er hatte keine Ahnung, was um ihn herum vorging und was man mit ihm machen wollte. Doch als er endlich eine Gedankenverbindung zwischen sich und dem gescheckten Hund herstellte, zwischen sich und dem alten schwarzen Kater, zwischen sich und dem Mädchen in dem schlichten roten Kleid, die so wirr dahergeredet hatte, als ob sie verrückt oder betrunken gewesen wäre, da war es bereits zu spät. Eine Wand von Lichtern und Geräuschen umringte ihn. Sein Gesicht starrte ihn aus Hunderten von Linsen an. Er schlug die Hände vor die Augen und rollte sich zusammen wie ein Igel. Er schaukelte vor und zurück, wimmerte und sabberte, weil ihm das Jaulen der Beschleuniger in den Ohren gellte. Ein Schrei war in seinem Kopf, der zum Teil mit den Anschlüssen zusammenhing. Dieser Schrei war so schrecklich, so andauernd, daß auch die Verbindungen abbrachen, als er endete. Er wartete in der Stille darauf, daß jemand zu ihm redete, ihm über den Kopf strich und in das Leben zurück brachte. Er zitterte auf seinem Stuhl, die Knie gegen die Brust gepreßt, das Gesicht zwischen den Schenkeln vergraben. Doch niemand trat zu ihm.
(Die kurze Episode, die jetzt folgt ist in dem Buch natürlich nicht beschrieben, da sich die Episode erst dann zugetragen hat, als das Buch bereits geschrieben war. Deshalb wird an dieser Stelle die »phantasievolle Neuschöpfung« durch eine »intelligente Spekulation« ersetzt. Da ich weiß, wie die Geschichte endet, kann sich die Episode nur so, wie ich sie schildere, zugetragen haben.)