»Eine lange Zeit ist inzwischen vergangen. Die Bäume wachsen. Und das Labor ist jetzt ein Staatsmuseum.«
Für ihn lag darin nicht die Spur einer Antwort.
»Und wo sind die Leute geblieben? Mr. Silberstein, der alte, tapsige Professor und der andere alte Mann – wo sind die alle hin?«
Sie seufzte. Es hatte keinen Sinn, wenn sie ihm erzählte, daß sie alle tot waren: Professor Krawschensky, der sechs Monate nach der Auflösung des Forschungszentrums bei einem Aufstand ums Leben gekommen war, ehe sein Kind zur Welt kam; der andere alte Mann, der Gründer, der sogar noch miterlebte, wie sie alle wieder ins Dorf zurückkehrten, und der dann ein paar Wochen später von seiner Frau mit der Schere erstochen wurde; und der Projektleiter, der sich selbst richtete, irgendwann in den Jahren, die danach folgten. Im Buch hatte Liza behauptet, Roses hätte bis zuletzt nicht gewußt, was mit ihm geschah. Manchmal, wenn sie sich vor sich selbst verteidigen mußte, hatte sie sich eingeredet, er hätte etwas gewußt, hätte etwas wissen müssen. Doch jetzt begriff sie, daß er nichts ahnte.
»Sie sind … nicht hier«, sagte sie stockend. »Ich bin jetzt der Leiter des Dorfes.«
Er trat wieder ans Fenster. Es gab zu viele Dinge da draußen, die nicht zueinander paßten. Er starrte auf die Bäume, auf das vom Regen benetzte Wasser. Es waren schöne Bäume im hellgrünen Schmuck ihrer Frühlingsblätter. Doch die Frau hinter ihm bedrückte ihn. Nichts an ihr war richtig. Bestimmt war sie Miß Liza – aber ihr Gesicht war jetzt plump und glatt wie ein Kissen. Ihre Stimme erinnerte ihn an ein Radio. Er reagierte viel mehr auf den Ton als auf die Bedeutung, und ihre Stimme erinnerte ihn an nichts so sehr wie an den anderen alten Mann, den Mr. Littlejohn. Nicht, daß sie so alt war wie er. Sie war eben nur nicht … richtig. Er rührte sich nicht, als er ihre Hände in seinem Nacken spürte. Sie band die Schnur seines Plakates los.
»Ich wußte doch, daß ich mich an den Wortlaut genau erinnert habe«, sagte sie. Dr. Meyer, damals der einzige Überlebende neben ihr (er war jetzt auch schon fünf Jahre tot), hatte versucht, den Text im Buch pathetischer und feierlicher wiederzugeben. Doch sie hatte darauf bestanden, daß er die unangenehme Wahrheit berichtete. Sie war jetzt groß genug, um sich dieser Wahrheit zu stellen. Und die anderen waren alle tot. Sie zerriß das Plakat in kleine Stücke und schüttelte dann den Kopf. Sie wurde sentimental. Sie blickte auf seine groben Hände, seine breiten Schultern und erinnerte sich an die Gewalttätigkeit, die sie unter ihm erlitten hatte. Das Grauen und die Faszination. Sein Haar war noch zerzaust von dem Angriff des Hovercraft-Fahrzeuges, den er vor siebenundfünfzig Jahren erlebt hatte.
»Die Leute werden dich sehen wollen«, sagte sie. »Sie haben in ihren Büchern von dir gelesen. Jetzt wollen Sie dich auch in Fleisch und Blut sehen.«
»Gelesen? Von mir? In was für Büchern denn?«
»Das Buch unter dem Glassturz auf dem Tisch.«
Er wendete sich ihr zu. Offenbar fand er Gefallen daran, daß er in einem Buch verewigt war. »Zeig es mir«, bat er.
Sie führte ihn zum Tisch zurück. »Das war schon immer dein Fehler«, sagte sie, »daß du dich deiner Lust und Freude geschämt hast. Wir haben das Buch so gestaltet, daß jeder, der es anfaßt, es auch lesen will.«
»Zeig mir etwas daraus.« Er reizte sie. Wie kindisch war er doch trotz seiner neugewonnenen Berühmtheit. »Zeig mir eine Stelle, wo etwas über mich darin steht.«
Sie schlug das Buch zu. »Man spricht nicht so mit mir«, sagte sie warnend. »Du mußt eine Menge dazulernen.« Und dann, als er sich duckte, spürte sie ihre Macht. Es war ein Gefühl, das nie verblaßte. »Ich habe Soldaten, die dich unterrichten werden. Du mußt lernen, daß die Dinge sich sehr verändert haben. Du, wir alle, haben uns viel zu sehr gehen lassen. Daraus entstand ein großes Unglück.«
Roses hatte keine Angst vor ihr, sondern vor der Fremdartigkeit seiner Umgebung: vor den Bäumen, den Silberschnüren, vor den Leuten, die nicht zugegen waren. Das Mädchen, das vor ihm stand, konnte er entweder ignorieren oder demütigen, wie er das schon einmal getan hatte. Ihr Gerede von den Soldaten bedeutete ihm nichts. Doch das Boot am Ufer war ganz anders als jedes Boot, das er bisher gesehen hatte, und es regnete von einem blauen Himmel, der eigentlich grau sein mußte. Vor diesen Dingen fürchtete er sich.
»Ich muß jetzt nach Hause«, sagte er. »Hab mein Mittagessen versäumt wegen der schwarzen Katze. Muß schon ziemlich spät sein, weil mein Magen so knurrt.«
»Dein Heim existiert nicht mehr, Varco.« Genoß sie tatsächlich nicht ihren kleinen Triumph? »Am Anfang, als wir die Nachbarn unterwarfen, waren wir nicht sehr zimperlich mit unserer Tradition. Wir haben deine Küche in ein Gefängnis verwandelt. Es war ja dort immer schon dumpf und feucht gewesen.«
Er folgte ihr nur bis zum Ende des ersten Satzes. Er glaubte ihr. Sein Heim bestand nicht mehr. Er wußte jetzt, daß alles vorbei und zu Ende war. Wimmernd rannte er zur offenen Tür, sah, daß ein Mann die nassen Stufen heraufkam, rannte zurück und kauerte sich auf eine der gepolsterten Bänke. Er war nicht hier. Er war nirgendwo. Er hörte den Mann über die Schwelle treten.
»Mutter?« meinte er fragend. »Ich hörte, daß wieder eine Rückkehr in die irdische Zeit stattgefunden hat. Ein Mensch diesmal. Hast du Schwierigkeiten mit ihm?«
»Absolut keine. Er sitzt da drüben.« Lizas Stimme wurde schärfer. »Steh auf, Varco. In der Gegenwart des zukünftigen Staatsoberhauptes erhebt man sich von seinem Stuhl.«
»Das kann er doch nicht wissen, Mutter.«
»Dann weiß er es jetzt. Steh sofort auf, Varco.«
Roses stand auf und sah zum erstenmal Lizas Sohn. Sohn? Wieso konnte sie einen Sohn haben, der bereits ein erwachsener Mann war? Leute mit erwachsenen Söhnen waren alt.
»Karl, das ist Roses Varco. Du erinnerst dich doch an ihn, nicht wahr?«
»Natürlich erinnere ich mich an ihn.«
Er blickte Roses von Kopf bis Fuß an: ein rotes, ernstes Gesicht, ungebügeltes Hemd, verwaschene Jeans, Löcher in den abgetragenen Turnschuhen. Fürwahr kein historisches Standbild.
»Sie haben sehr lange gebraucht, um zu uns zurückzufinden. Die meisten von uns haben Sie längst abgeschrieben. Ich sollte Ihnen deshalb zuerst einmal gratulieren, daß Sie gesund hier eingetroffen sind.« Die Worte waren bedeutungslos, doch der Ton war verletzend. Roses sagte nichts vor dieser eingeimpften Überlegenheit. Karl sprach jetzt zu seiner Mutter, obwohl er seine Augen von Roses nicht abwendete. »Ich habe mich oft gefragt, ob du nicht etwas übertrieben hast, Mutter. Ich meine, in den Beiträgen, die du zu dem Buch geliefert hast. Doch jetzt sehe ich, daß deine Beschreibung haargenau zutrifft.«
Er schlug Roses ins Gesicht, eine kaltblütige Geste, die die Möglichkeit einer Vergeltung absolut ausschloß. Roses ballte die Fäuste, aber er wehrte sich nicht. Hierzu gab es keinen Präzedenzfall, keinen Anknüpfungspunkt. Er tat nichts.
»Das war dafür, was du meiner Mutter angetan hast. Allerdings nur der Anfang. Ein kleiner Anfang.«
»Das reicht, Karl!«
»Aber ich habe doch das Buch gelesen. Willst du ihn wirklich straflos ausgehen lassen?«
»Ich sagte, es genügt, Karl. Widersprich mir nicht.«
Sie dachte nicht über den Grund nach, warum sie ihm befohlen hatte, die Prügelei zu unterlassen. Er hatte in ihrer Gegenwart schon Männer bewußtlos geschlagen. Männer aus dem Ausland, die besser und weiser waren als Roses. Männer, die man formen mußte wie Roses hier. Sie dachte sofort an ihren Sohn und wartete darauf – wie sie immer darauf wartete –, daß er sich auflehnen sollte. Widersprich mir, bitte, widersprich mir. Sie hatte ihn zum Mann erzogen. Als Herrscherin hatte sie ihn zum Herrschen erzogen. Und trotzdem war er noch mit sechsundfünfzig ihr Speichellecker.
War das nicht vorauszusehen gewesen, nicht zu erwarten von dem Sohn eines Tattergreises, den sie für unfruchtbar gehalten hatte? War das nicht zu erwarten von dem Kind einer greisenhaften Lust. Solange Karl lebte, hatte sie dieser Gedanke bedrückt und hatte sie sich gegen diesen Gedanken aufgelehnt. Er war ihr Sohn. Wenn er nicht das war, was er sein sollte, war das auch ihr Fehler.