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»Ich habe gestern abend eine Reportage im Fernsehen gesehen, Joseph. Ein ähnlicher Regen ging im letzten Monat über China nieder. Ein internationales Team von Mikrobiologen arbeitet an der Sache …«

»Ist das nicht immer so? Wenn ich einen Sohn hätte, würde ich ihm raten, Mikrobiologe zu werden. Kein Bauer, kein Lehrer, sondern ein nützliches Mitglied der Gesellschaft – Mikrobiologe.«

Joseph lehnte sich an den Ladentisch und hielt sich den Bauch vor Lachen. »Harmlos für Menschen – das gefällt mir. Wird Ihnen dabei nicht gleich besser, Projektleiter?«

In David Silberstein stieg der Zorn auf. Dieser Mann mußte weg. Er hatte kein Gefühl für Schicklichkeit. Sein Verstand war angekränkelt.

»Schauen Sie mich nicht so böse an, Projektleiter. Ich muß entweder lachen oder -«, plötzlich wurde er ganz still, »mich aufhängen.«

Das jähe Schweigen legte sich beklemmend auf Davids Haut. Er fühlte sich beschämt. In den Kantinenräumen hinter dem Laden klapperte Geschirr. An Davids Händen klebte jetzt der kalte Schweiß seines Zorns. Jeder fand sich so gut es ging mit der Lage ab. Joseph drehte sich um und zuckte mit den mächtigen Schultern.

»Wer würde denn das Essen für Ihren erlauchten Gast kochen?«

Der Projektleiter war dankbar für diese neue Wendung ihres Gesprächs, für den veränderten Tonfall.

»Ein erlauchter Gast, Joseph? Wer hat Ihnen denn das gesagt?«

»Der Büttel des Sergeanten ist ein Busenfreund von mir.«

»Dann hat Ihnen wohl der Büttel auch berichtet, was in diesem besonderen Fall angebracht ist, nicht wahr?«

»Selbstverständlich. Ein Essen, wie es einem König geziemt. Und dabei« – Joseph schwenkte seinen dicken Zeigefinger –, »und dabei muß es so zusammengestellt sein, als wäre es improvisiert worden. Ein Mahl, das ein gut vorbereiteter Küchenchef für einen unerwarteten Ehrengast auf den Tisch bringt.«

»Der Büttel des Sergeanten ist gut unterrichtet, Joseph. Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.«

Als der Projektleiter wieder ging, zog Joseph unter dem Ladentisch eine Schere hervor. Er tapezierte sein Wohnzimmer mit Zeitungsausschnitten. Zweieinhalb Wände seines Untergangszimmers hatte er bereits vollgeklebt.

David Silberstein besuchte jetzt die Werkstätten. Hier waren keine besonderen Vorbereitungen vonnöten; doch der Cheftechniker war gleichzeitig der Leiter der Dorfkapelle. David wollte sich nur überzeugen, daß alle ihre Instrumente griffbereit neben ihrem Arbeitsplatz hatten. Das Repertoire, wie es sich für eine Dorfkapelle gehörte, war zwar beschränkt, aber dafür von Begeisterung getragen.

Von den Werkstätten führte der Weg zum Mannschaftsraum. Dieser Besuch war leider unvermeidlich. Wie David im stillen gehofft hatte, traf er alle sechs Team-Mitglieder bei der morgendlichen Aussprache an. Diese Aussprache fand jeden Tag statt und dauerte eine Stunde. Die Team-Mitglieder unterhielten sich dabei ungezwungen mit ihrem Ausbildungsleiter, ihrem Trainer und dem Dorfpsychiater, ehe sie sich an ihre Lernmaschinen und Lehrgeräte setzten. Sie waren an der Fernseh-Universität eingeschrieben und hatten Kurse in folgenden Fächern belegt:

angewandte Medizin

Chemie

vergleichende Religionswissenschaft

Logik

reine und angewandte Mathematik

Sozialanthropologie

Weltliteratur

Betriebswissenschaft

Verständigungslehre

Linguistik

Logistik

Mikrobiologie

Nuklearphysik

Soziologie

Nebenbei unterrichtete sie der Ausbildungsleiter – ein Diplomat im Ruhestand, den David Silberstein aus unerfindlichen Gründen einfach nicht ausstehen konnte – in gutem Betragen, protokollarischem Anstand, internationalem Humor, Aufrichtigkeit und öffentlichem Auftreten. Neben diesen vielen Fächern hatten sie auch noch ein hartes Pensum in körperlicher Ertüchtigung und in den wichtigsten Sportarten der Welt zu erfüllen.

Diese Aussprache-Stunden waren deshalb ein wichtiger Bestandteil des Ausbildungsprogramms. Damit wollte man Isolierungstendenzen entgegenwirken und dafür sorgen, daß menschliche Beziehungen humaner Art nicht zu kurz kamen.

Der Lärm im Mannschaftsraum war ohrenbetäubend. David Silberstein hatte unbemerkt eintreten können und war dankbar für die Frist, in der er sich anpassen und seinen ganzen Mut zusammennehmen konnte. In der Gegenwart der Team-Mitglieder fühlte er sich immer gefährlich unvollkommen, reduziert und kaum daseinsberechtigt. Drei brillante junge Männer, positiv, bronzefarben, muskulös, über alle Maßen gut aussehend, und dazu drei brillante junge Damen von ebenfalls überragender Qualität, dazu alle nackt – sie verwandelten ihn im Nu aus einem vollkommen normalen Mann mittleren Alters in einen schwächlichen, schwachsinnigen sexlosen Tattergreis, in eine Beleidigung für die menschliche Rasse. Selbst seine Kleider – bei anderen Gelegenheiten bezaubernd altmodisch und auch bei diesem Wetter seiner Altersstufe angemessen – schienen hier ein Eingeständnis seines Versagens. Als schämte er sich, nackt in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Was zutraf.

In der Gegenwart seiner Team-Mannschaft versuchte er, aufrechter zu gehen, seiner Stimme mehr sonoren Klang zu geben und Sorgenfalten zu zeigen, die seine hohe Stellung unterstrichen. Das alles zusammen machte ihn vielleicht zu einem noch viel schlimmeren Narren, als er sich das eingestehen wollte. Doch hatte er keinen Beweis dafür, so hervorragend war sein Team im Betragen geschult.

Der Ausbildungsleiter wurde endlich auf ihn aufmerksam, winkte, lächelte. Dieses Lächeln tat David wohl. Er bekam dadurch das Gefühl, daß er nützlich war, wichtig und unentbehrlich. Das Lächeln eines Experten. Sofort kehrte die alte Unsicherheit zurück. Er war überflüssig, entbehrlich.

»Kommen Sie herein, Projektleiter!« Er war ja schon eingetreten. »Nett, Sie zu sehen. Ich würde Sie bitten, doch öfters zu uns zu kommen, wenn ich nicht wüßte, wie beschäftigt Sie sind. Fühlen Sie sich bei uns ganz zu Hause.«

David wurde sanft auf einen tiefen roten Ledersessel geschoben.

»Ich will das Team nicht unterbrechen, Projektleiter. Diese eine Stunde ist so wichtig für die jungen Leute. Sie tummeln sich so ausgelassen wie Hunde, die man plötzlich auf einem großen weiten Sandstrand frei läßt.«

Dieser Satz war so typisch für Sir Edwin, so aufreizend. Weil er so treffend die Wahrheit umschrieb? David Silberstein rang mit seinen Vorurteilen. Er ermahnte sich zum wiederholtenmal, man könne einem Mann nicht vorwerfen, daß er so unendlich liebenswürdig sei … Er riß sich zusammen.

»Die Leute machen Ihnen Ehre, Sir Edwin. Ihnen und der Menschheit.«

Und das war nicht einmal geschmeichelt, besonders wenn sie nackt waren, was doch so vielen sehr schlecht stand. Vielleicht hatte der Ausbildungsleiter selbst seine Zweifel – obgleich er sie nicht zeigte –, wenn er sich unter seine Schüler mischte. Kein junger Mann mehr, nicht mehr genug Fleisch, um die Haut auszufüllen – wäre er nicht besser daran gewesen, wenn er sich etwas angezogen hätte?

»Natürlich ist es wichtig«, sagte der Ausbildungsleiter, »sie nicht nur als Fleischkörper zu betrachten. Auch nicht als psychosomatische Komplexe. Sie sind Individuen. Sie haben ihre Fehler – wir kultivieren diese Fehler sogar. Perfektion wäre langweilig, sogar widerwärtig.«

Der Ausbildungsleiter lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. David Silberstein ertappte sich bei der Beobachtung, was für eine peinliche Verlagerung männlicher Anatomie bei diesem Akt stattfand. Er blickte rasch zur Seite. Vielleicht litt er an einem Genitalkomplex, vielleicht sogar an Fetischismus. Er blickte sich jetzt im Mannschaftsraum um, zwang sich mit geistiger Disziplin dazu, nur Hände und Gesichter zu bemerken … nicht anstößige Brüste, Bäuche, Brustwarzen oder Schamhaare. Auch das war krankhaft. Manchmal verwirrten ihn bereits Worte dieser Art. Eines Tages mußte er seinen ganzen Mut zusammennehmen und den Dorfpsychiater um eine vertrauliche Unterredung bitten.