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Die beiden Zwerge schwiegen. Sie mussten eine Lösung auf Dauer finden, denn sobald der König der Vierten auf dem Herrschersitz säße, würde er sein Vorhaben erneut angehen und auf offene Ohren stoßen.

Weder Gundrabur noch Balendilín fürchteten sich vor den Elben, doch ihre Getreuen befanden sich in der Unterzahl. Die verlustreichen Scharmützel und Gefechte gegen die Albae hatten sie dezimiert, während ihre Gegner aus den Bergen des Nordpasses Nachschub erhalten hatten. Aber ein Krieg führte immer zu Verlusten, auch unter den Kindern des göttlichen Schmiedes, und damit schwächte man die Bewachung an den Pforten zum Geborgenen Land.

Der Großkönig ließ den Blick durch die leere Versammlungshalle schweifen. »Dieser Raum hat schon bessere Zeiten erlebt. Zeiten der Eintracht und Einmütigkeit.« Er senkte den Kopf. »Vorbei. Vorbei mit den guten Zeiten und aus für das große Bündnis, das wir schmieden wollten, treuer Freund.«

Das große Bündnis, dachte Balendilín und blickte zu den fünf Stelen, die sich zu den Füßen seines Thrones erhoben und auf denen die heiligen Worte seines Volkes eingemeißelt waren. Sie nannten den Namen derer, mit denen sich die anderen Stämme niemals abgaben: die Zwerge des Dritten, Lorimbur, die im Osten lebten.

»Ich wäre über meinen Schatten gesprungen und hätte den Dritten eine Nachricht geschickt, um Unterredungen zwischen ihnen und uns aufzunehmen«, seufzte der Großkönig. »In den Zeiten der schlimmsten Not darf nur die gemeinsame Herkunft, das Zwergische, gelten.«

»Nach dem Aufruf von Gandogar zweifle ich daran, dass den anderen an einer Aussöhnung gelegen ist«, meinte sein Berater leise. Dabei brauchte das Land jede Axt, die einen Orkschädel spalten konnte.

»Sei es, wie es ist. Auch wenn meine Vision von einem vereinten und unaufhaltbaren Zwergenheer an Klarheit verliert, so soll es wenigstens keinen Krieg gegen die Elben geben. Wir brauchen Zeit, Balendilín«, sprach der Großkönig entkräftet. »Ich muss die Clans der Stämme davon abbringen, Âlandur angreifen zu wollen.«

»Das liegt ganz an dir«, meinte sein Freund sanft. »Deine Gesundheit bestimmt, wann es den Wechsel geben wird.«

»Nein. Es muss mehr geben als den Lebensfunken eines alten Zwerges.« Gundrabur strich sich über den Bart und ordnete ihn. »Die Gesetze unseres Volkes, damit müssen wir sie fangen und die Kriegstreiber zum Verstummen bringen.«

Er stemmte sich in die Höhe, und ging in kleinen, wohl überlegten Schritten zu den Tafeln. Die Stufen bedeuteten Hindernisse, die mit viel Umsicht überwunden werden mussten, aber er erreichte sein Ziel. Balendilín eilte an seine Seite und stützte ihn.

Goldenes Sonnenlicht fiel von oben durch die in den Fels gehauenen Öffnungen und beleuchtete jede einzelne kunstvolle Rune. Gundraburs alte Augen huschten über die Symbole.

»Wenn ich mich recht entsinne, bleibt uns ein Ausweg, die sichere Wahl Gandogars zum Großkönig zu verzögern. Diese Zeit werden wir für Aussprachen mit den Clans nutzen, an deren Ende der Friede und das Bündnis mit den Elben stehen soll«, erklärte er abwesend.

Er musste so dicht an den Fels herangehen, dass er ihn fast mit seiner Nase berührte, weil seine Sehkraft in den vergangenen Zyklen immer schlechter geworden war. Nach dem Stamm Beroïn folgte Goïmdil, daran gab es nichts zu rütteln. Nach alter Sitte verlangte der König des jeweils folgenden Stammes das Amt für sich, und die Clans der Stämme wählten das Oberhaupt, wenn keine triftigen Gründe gegen den Bewerber sprachen.

»Wo ist es nur?«, murmelte er halblaut, während seine Fingerspitzen über die Tafeln glitten.

Die Suche lohnte sich. Mit einem Laut der Erleichterung senkte Gundrabur den Kopf, schloss die Lider und presste die Stirn gegen die kühle Steinplatte, die älter war als er.

»Der Tag endet nicht so schlecht, wie er begann«, sagte er befreit. »Da steht es.« Er richtete sich auf, und der krumme Zeigefinger der Rechten unterstrich die bedeutungsvollen Worte. »Wenn es mehrere Bewerber aus einem Stamm gibt, müssen sich die Clans des Stammes zuerst untereinander einigen, um dem Rat der Zwerge den geeigneten Bewerber vorzustellen«, las er zufrieden vor.

Sein Berater überflog die anschließenden Zeilen; aufgeregt spielte er mit einer der Zierspangen in seinem schwarzgrauen Bart. Nirgends stand geschrieben, dass man König sein musste, um an die Spitze der Stämme zu gelangen. »Ein einfacher Zwerg kann von heute auf morgen die Krone tragen, denn alles, was er benötigt, ist die Unterstützung seines Clans und seiner Freunde.«

Balendilín verstand, was der Großkönig im Sinne hatte. »Wir haben aber keine weiteren Mitstreiter, die Gandogar fordern«, warf er ein. »Die Clans der Vierten sind sich weitgehend einig; es gibt nur wenige, die an ihrem König zweifeln, und …« Das Leuchten auf dem runzligen Gesicht seines Herrn verunsicherte ihn. »Wir haben doch einen Bewerber?«, fragte er vorsichtig.

»Noch nicht«, entgegnete Gundrabur mit einem verschlagenen Lächeln. Er hatte sich rechzeitig an den Brief erinnert, der ihn vor einigen Umläufen erreicht hatte. »Noch nicht. Aber bald. Mir ist soeben einer eingefallen.«

Das Geborgene Land, das Zauberreich Ionandar im Jahr des 6234sten Sonnenzyklus, Frühling

Die Flammen der beinahe vollständig herabgebrannten Kerzen auf dem eichenen Arbeitstisch Lot-Ionans flackerten. Die Wachsstummel waren ein sicheres Anzeichen dafür, dass der Magus lange Stunden in seinem Studierzimmer verbracht hatte, wenngleich sie ihm wie wenige Augenblicke erschienen.

Ächzend beugte er sich vor, um das Pergament mit den vielen Runen zu betrachten. Tage, Nächte, Zyklen hatte er an der Zauberformel gearbeitet. Nur noch ein letztes Zeichen fehlte, um sie zu vervollständigen.

Er lächelte. Der gewöhnliche Sterbliche, der selten mit Kräften dieser Art zu tun hatte, hegte Scheu vor allem, was mit Zauberei zu tun hatte. Für die schlichten Gemüter war es nicht einfach, die Verflechtungen der Elemente zu verstehen. Ein Bauer sprach ängstlich von »Wunder« und »Hexerei«, für Lot-Ionan war es das Ergebnis einer Abfolge von komplizierten Gesten und Worten.

Und genau um diesen Ablauf ging es. Mit ihm stand und fiel alles. Eine falsche Silbe, eine undeutliche Betonung, eine abweichende Geste mit der Hand oder eine zu schnelle Bewegung mit dem Zauberstab, ja, selbst nicht korrekt gezeichnete Zauberkreise bedeuteten das Ende eines Spruches und lösten im ungünstigsten Fall gar eine Katastrophe aus.

Er kannte Beispiele, bei denen unvorsichtige Schüler schwerste Verletzungen erlitten oder albtraumhafte Kreaturen beschworen hatten, ohne es zu beabsichtigen. Dann riefen sie stets kleinlaut nach ihm, auf dass er den Schaden begrenze.

Lot-Ionan war geduldig mit ihnen, schließlich hatte er vor zweihundertsiebenundachtzig Zyklen genau wie sie begonnen. Jetzt trug er den Titel Magus, was die Menschen als Meistermagier übersetzten.

Zweihundertsiebenundachtzig Zyklen. Seine Hand mit den vielen Altersflecken verharrte mitten in der Bewegung; die wachen hellblauen Augen suchten in dem Gewirr aus Schränken, Regalen und Bücherborden nach einem Spiegel und fanden die reflektierende Oberfläche einer Vase.

Er musterte seine faltigen Züge, die grauweißen Haare, den grauen Bart, in dem unzählige Tintenflecke zu sehen waren. Ich bin alt geworden. Wurde ich auch weiser?, fragte er sich.

Das hellbeige Gewand wies unzählige Flicken auf, aber er mochte sich von dem bequemen Stück nicht trennen. Im Gegensatz zu manchen seiner Zunftbrüder und -Schwestern achtete er nicht sonderlich auf sein Äußeres. Der einzige Anspruch, den er an seine Garderobe stellte, war die Gemütlichkeit.

In einem stimmte der alte Gelehrte mit dem gemeinen Volk überein: Magie war überaus gefährlich. Das war der Grund, warum er sich in Stollen zurückzog: Wenn ihm wirklich ein Versuch misslang, so schadete er keinem seiner Untertanen.