Выбрать главу

Doch der Magus tauchte nicht nur aus uneigennützigen Gründen ab. Unter der Erde hatte er vor den Menschen und deren alltäglichen Sorgen seine Ruhe; er überließ es ausgesuchten Stellvertretern, den so genannten Magistern, die Angelegenheiten und Streitigkeiten im Herrschaftsgebiet zu regeln.

Sein Reich Ionandar nahm Teile von Gauragar und Idoslân in Beschlag, dort, wo das südöstliche der insgesamt sechs Magiefelder lag. Die allerersten Zauberer hatten die Kraft in der Erde bemerkt, die sich in gewissem Maß auf sie hatte übertragen lassen. War das Gespeicherte aufgebraucht gewesen, hatten sie sich durch die Felder mit neuer Energie aufgeladen. Sie hatten das wertvolle Land beschlagnahmt, es in sechs Gebiete aufgeteilt und gegen die weltlichen Herrscher verteidigt, die gegen die Kraft der Zauberer nichts aufzubieten gehabt hatten. Eine Generation von Königen nach der anderen hatte es in Kauf genommen, dass Teile ihrer Reiche Fremden gehörten.

Diese Magiefelder gaben den Magi ihre Macht. Das Verständnis und das Können der Zauberer waren im Lauf der Zeit gewachsen, bis sie imstande waren, durch Formeln, Runen und Sprüche die schönsten, schrecklichsten und heilsamsten Effekte heraufzubeschwören.

Konzentriere dich auf die Formel, rief er sich zur Ordnung. Gewissenhaft streifte er die Spitze des Gänsekiels am Tintenfass ab und malte vorsichtig das Symbol des Elements Feuer auf das Blatt. Es kam auf jeden Strich an, die kleinste Unachtsamkeit würde all die Arbeit zunichte machen.

Es gelang. Zufrieden erhob er sich.

»Das wäre geschafft, alter Junge«, murmelte er erleichtert. Die Formel stand. Funktionierte sie so, wie er es sich anhand der Anordnung der Runen erhoffte, würde er in der Lage sein, Magie wahrzunehmen, egal ob sie in Gegenständen, in Personen oder in Tieren steckte. Doch ehe er von der Theorie zur Anwendung wechselte, verlangte es ihn nach einer Belohnung.

Lot-Ionan schlurfte zum ältesten seiner Geräteschränke, nahm das Fläschchen mit dem Totenkopf aus dem dritten Regal und gönnte sich einen großen Schluck.

Das abschreckende Emblem hatte nichts zu sagen. Auf diese Weise bewahrte er den guten, starken Branntwein vor begierigen Schlünden. Die Vorsichtsmaßnahme hatte der Zauberer nicht ohne Grund getroffen, denn gerade seine älteren Schüler gönnten sich nur allzu gern ein feines Tröpfchen. Er teilte bereitwillig sein Wissen, nicht aber seinen kostbaren Alkohol. Die Ursprungsfässer dieses Jahrgangs waren schon lange leer, was das Fläschchen umso beschützenswerter machte.

Plötzlich erschütterte eine gewaltige Explosion die Grundfeste der unterirdischen Behausung. Gesteinsbröckchen rieselten von der Decke und beschmutzten den Tisch, und die zahllosen Behälter hüpften in den Gestellen, dass ihre Deckel klirrten. Alles in dem völlig überfrachteten Zimmer geriet in Aufruhr.

Der Großmagier stand starr vor Schreck. Das offene Tintenfass tanzte auf der Stelle, neigte sich leicht – und kippte. Ein Zauberspruch, um dem Verhängnis Einhalt zu gebieten, kam zu spät, und so ergoss sich der gesamte Inhalt über das kostbare Pergament. Die sorgfältig gemalten Schriftzeichen verschwanden in einer Flut schwarzer Tinte.

Fassungslos verharrte Lot-Ionan auf der Stelle. »Bei Palandiell der Schöpferin!«, entfuhr es ihm, und seine freundliche Miene verfinsterte sich, denn er ahnte, woher das Erdbeben stammte. Lot-Ionan stürzte den restlichen Brandwein hinunter, drehte sich auf dem Absatz herum und stürmte zur Tür hinaus.

Er flog förmlich durch die dunklen Stollen, vorbei an Zimmern und Gängen seiner Behausung. Mit jedem Schritt, den er tat, erhöhte sich eine Wut darüber, dass all die Anstrengungen nun dahin waren.

Voller Zorn erreichte er die Tür zum Experimentierzimmer, hinter der man seltsame Geräusche vernahm. Ein halbes Dutzend seiner Famuli hatten sich davor eingefunden und tuschelten. Niemand wagte es, in den Raum zu schauen.

»Ehrenwerter Magus«, begrüßte ihn Jolosin voller Ehrfurcht. »Wir kamen zu spät! Ich habe gesehen, wie der Zwerg in das Laboratorium ging und …«

»Aus dem Weg!«, befahl Lot-Ionan erbost und entriegelte die Tür.

Das teure Laboratorium glich einem Schlachtfeld, auf dem sich wahnsinnige Alchimisten ausgetobt hatten. Kleine Gegenstände schwebten frei in der Luft, hier und da schwelten Brände. Kostbare Elixiere liefen aus den zerstörten Flakons; sie rannen die Regale hinab, um sich am Boden zu einer stinkenden Brühe zu vermischen.

Der Schuldige kauerte in der Ecke des Raumes, einen umgedrehten Kessel als Schutz gegen die Detonationen vor sich geschoben. Die Finger steckten in den Ohren, die Augen hatte er fest geschlossen. Trotz der verbrannten Haare und des rauchenden Stoppelbarts war es unzweifelhaft Tungdil Bolofar.

Es knallte wieder. Blaue Funken schossen durch den Raum und verfehlten den Magus nur knapp.

»Was geht hier vor?!«, schrie der Magus wutentbrannt, doch der Zwerg reagierte nicht, weil er ihn ganz offensichtlich nicht hören konnte. »Tungdil Bolofar, ich rede mit dir!«, rief der Magus, so laut er konnte.

Verwundert sah sich der Zwerg um und erblickte die schmächtige Gestalt des Zauberers, der eine drohende Haltung eingenommen hatte. Umständlich erhob er sich aus seiner Deckung.

»Ehrenwerter Magus, ich war es nicht«, beteuerte er, und seine Augen richteten sich funkelnd auf Jolosin, der zusammen mit den anderen Schülern am Eingang stand und Überraschung heuchelte.

Lot-Ionan wandte sich zu dem Zauberschüler um.

»Ich?«, entgegnete der Famulus übertrieben erstaunt. »Wie sollte das vonstatten gehen? Die Tür war verriegelt. Ihr habt es selbst gesehen.«

»Schweigt! Beide!«, rief Lot-Ionan. Angesichts des kostspieligen Durcheinanders drohte der letzte Rest seiner Fassung zu schwinden, und das war seit zehn Zyklen nicht mehr vorgekommen. »Ich habe genug von eurem Kleinkrieg in meinem Stollen!«, sagte er aufgebracht, und sein Bart mit den vielen Tintenflecken geriet in Wallung.

Der Zwerg dachte gar nicht daran, klein beizugeben, und stemmte sich mit beiden Beinen fest gegen den Boden. »Ich habe nichts getan«, wiederholte er starrköpfig.

Der Zauberer zwang sich, seine Ruhe wieder zu finden, für die er so berühmt war, und setzte sich auf eine eisenbeschlagene Truhe, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Hört gut zu, ihr zwei. Es ist mir gleichgültig, wer der Auslöser der Katastrophe war. Ich hasse Unterbrechungen in meiner Arbeit, und eine Wiederholung dieser Explosion, die mir das Werk von Sonnenumläufen, wenn nicht sogar eines ganzen Zyklus verdorben hat, kann ich schon gar nicht gebrauchen. Also werde ich dafür sorgen, dass es in den Gängen ruhiger wird.«

»Ehrenwerter Magus, Ihr wollt den Kurzen doch nicht etwa von hier verbannen?«, täuschte Jolosin Mitgefühl vor.

»Schweig, Famulus! Über deinen Anteil in diesem Drunter und Drüber sprechen wir noch, doch zuerst möchte ich Ruhe in meinem Zuhause haben. Je eher, desto besser.« Er schaute den Zwerg an. »Ich schulde einem alten Freund die Rückgabe von ein paar Dingen.« Tungdil schwante bei diesen Worten Übles. »Du, mein dienstbarer Geist, wirst diesen kleinen Botengang für mich übernehmen.

Du hast eine Stunde Zeit, deine Ausrüstung zusammenzupacken und dich marschbereit zu machen. Komm anschließend zu mir, dann gebe ich dir die Sachen. Sei auf eine lange Wanderung vorbereitet, Tungdil.«

Der Zwerg verbeugte sich höflich und eilte aus dem Raum. Mit dieser Wendung der Ereignisse hatte er nicht gerechnet. Ein kleiner Fußmarsch bedeutete keine wirkliche Strafe, seine kräftigen Beine würden ihn mit Leichtigkeit über die Wege und Pfade tragen. Vielleicht treffe ich Zwerge. So eine Strafe lasse ich mir gefallen, dachte er im Stillen.

Der Magier schaute seinem gedrungenen Gehilfen nach und wartete, bis er verschwunden war, dann wandte er sich Jolosin zu. »Du wolltest Tungdil eins auswischen, Famulus. Ich kenne dich zu gut«, sagte er ihm ins Gesicht. »Solange ihr beide an einem Ort seid, habe ich keine Ruhe. Aber ich möchte, dass sich das ändert. Bis Tungdil wieder zurück ist, wirst du beim Kartoffelschälen über deine Bosheit nachdenken, und bete zu Palandiell, dass er sich beeilt.«