»Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Lot-Ionan.«
»Daran zweifle ich nicht, Tungdil. Kehre gesund zurück und lass es dir unterwegs gut gehen.«
Der Zwerg verließ das Zimmer, um in die Küche zu Frala zu gehen. Von ihr wollte er sich Proviant geben lassen und mit ihr die Neuigkeit über seine Abstammung teilen.
Er fand sie am großen Trog stehend beim Teigkneten. Der Schweiß lief ihr über das Gesicht, denn die Arbeit war sehr anstrengend und die zähe Masse aus Mehl, Wasser und Hefe alles andere als leicht durchzukneten.
»Ich brauche Proviant«, verkündete er strahlend.
»Aha. Hast du einen Botengang vom Magus erhalten?«, lächelte sie ihn an und versetzte dem Teig einen letzten Hieb. »Dann wollen wir doch mal schauen, was wir für den Kurier des Zaubermeisters alles in der Speisekammer haben.« Frala klopfte sich das Mehl von den Händen und betrat mit Tungdil jene Kammer, in der eine Maus wohl gern zur Welt käme.
Die Magd packte Trockenfleisch, Käse und Dauerwurst sowie einen Laib Schwarzbrot in den Rucksack. »Das müsste reichen.«
»Für dreihundert Meilen?«
»Dreihundert?«, staunte sie. »Tungdil, das ist kein Botengang mehr, das ist eine richtige Reise. Nein, da müssen wir selbstverständlich noch etwas draufpacken.« Sie legte zwei Würste und etwas Schinken nach. »Aber lass es die Köchin nicht sehen«, sagte sie, während sie die Klappe des Rucksacks eilig schloss.
Sie kehrten in die Küche zurück. »Und? Wohin wird dich deine lange Wanderung führen?«, wollte Frala neugierig wissen.
»Ich gehe zum Schwarzjoch«, verriet er ihr. »Ich soll einem ehemaligen Schüler des Magus ein paar Dinge zurückbringen.«
»Von diesem Berg habe ich noch nie gehört«, grübelte Frala. »Das muss eine sehr weite Reise sein, dreihundert Meilen … Durch welche anderen Königreiche läufst du?«
Tungdil lachte. »Ich würde dich mitnehmen, aber Lot-Ionan hätte sicher etwas dagegen. Dein Mann und deine Töchter auch.« Er zeigte ihr die Landkarte und ließ den Finger über das Blatt wandern.
»Idoslân und Gauragar! Und Lios Nudin liegt fast daneben, ist das nicht aufregend?«
»Ach, bei Nudin ist es ruhig. Alles, was er macht, ist Wissen zu sammeln«, winkte der Zwerg ab. »Bei Turgur dem Schönen, da gäbe es sicherlich was zu sehen.«
»Warum?«
»Der Magus ist auf der Suche nach unvergänglicher Anmut für jedermann. Der krummbeinigste Bauer und die schiefmäuligste Dirne sollen ihren Makel gegen Elbengleiche Schönheit tauschen können«, erzählte er der Magd. »Seine Bemühungen schreiten jedoch nicht so recht voran, wie ich von Lot-Ionan gehört habe. Angeblich leben viele Menschen in Turgurs Land, denen er solche Missbildungen bei seinen Versuchen beschert hat, dass sie sich aus Scham verbergen. Vielleicht ist es ganz gut, dass ich Turgur fern bleibe, ehe er versucht, mich größer zu zaubern.«
»Wie grausam«, sagte Frala bedauernd, ging in die Hocke und drückte den Zwerg an sich. »Ich wünsche dir den Segen Palandiells und deines Gottes Vraccas, damit du unterwegs vor allen Gefahren geschützt bist.« Sie nahm ihr Halstuch ab und band es dem Zwerg um den Gürtel. »Hier, dein Talisman. Wann immer du ihn anschaust, denkst du an mich.« Schelmisch zwinkerte sie ihm zu. »Und daran, dass du mir etwas Schönes mitbringst.«
Tungdil sah in ihre lebendigen grünen Augen und seufzte. Er hatte die Magd so sehr in sein Herz geschlossen, dass es ihm schwer fiel, sich vorzustellen, fortan ohne sie bei den Zwergen und seiner Familie zu leben, zumal er doch der Pate von Sunja und Ikana geworden war. Er begehrte Frala nicht, solche Gedanken waren ihm fremd, aber weil er sie von klein auf kannte, fühlte er sich wie ein Bruder.
»Lot-Ionan hat eine Nachricht an die Zwerge Beroïns gesandt, um Nachforschungen über meine Herkunft anzustellen«, erzählte er ihr von der Unterredung mit seinem Ziehvater. »Wenn meine Familie dort lebt, würde ich gern ins Gebirge gehen und mich mit ihnen treffen, vielleicht bei ihnen leben. Der Magus hat es mir freigestellt zu wählen.«
Die Magd umarmte ihn ein weiteres Mal und teilte seine Freude über die schönen Nachrichten. »Es scheint, als ginge noch ein Traum bald in Erfüllung.« Sie grinste frech. »Jolosin wird Luftsprünge machen, falls du uns verlässt.«
»Das wäre ein Grund, nicht zu gehen«, erwiderte Tungdil schmunzelnd, bemerkte aber, dass sich ein Schatten über ihr eben noch fröhliches Gesicht legte.
»Wirst du uns ab und zu mal besuchen und uns von den Zwergen berichten, die im Süden leben?«, wollte sie wissen. Ein Hauch von Schwermut lag in ihren Worten, auch wenn sie sich für ihren besten Freund aus tiefstem Herzen freute.
»Warte es ab, Frala. Am Ende vermissen sie gar keinen wie mich, und ich bin einfach so aus den Felsen geboren worden«, wiegelte Tungdil ab. »Ich bringe Gorén sein Eigentum wieder, danach sehen wir weiter.«
Ein kleines Kind schrie in der Ecke der Küche. Frala eilte, um ihre Tochter Ikana aus der Wiege zu holen, die sie neben den warmen Herd gestellt hatte.
»Schau, das ist dein Pate, kleiner Wurm«, sagte sie zu dem Mädchen. »Er wird später auf dich aufpassen, so wie er lange Jahre auf mich Acht gab.«
Der Zwerg streckte seinen Zeigefinger aus, den das Menschenkind sogleich ergriff und zu sich zog. Tungdil meinte sogar, ein leises Lachen gehört zu haben.
»Sie lacht mich aus.«
»Unsinn. Sie lacht mit dir. Siehst du? Sie mag dich«, erwiderte Frala.
»Dir und deiner Schwester bringe ich auch etwas mit«, versprach er Ikana und zog seinen schwieligen Finger vorsichtig aus der kleinen zartrosa Hand. Doch nachdem er seine Scheu vor dem zerbrechlich aussehenden Kind überwunden hatte, wollte er gar nicht mehr von ihm lassen. Ikana fasste nach und schnappte sich eine braune Haarsträhne. Mit großer Vorsicht entwand er sie ihr wieder. »Du willst wohl, dass ich bleibe?«
Gemeinsam gingen sie durch den halbdunklen Stollen bis zum Nordtor. Helles Tageslicht schimmerte durch den Spalt. Die Magd küsste ihn auf die Stirn. »Pass auf dich auf«, verabschiedete sie ihn. »Und komm heil zurück.«
Ein Famulus betätigte die Seilwinden des Öffnungsmechanismus, und die eisenbeschlagenen Eichenportale schwangen knarrend zurück.
Die Sonne schien auf die runden, sattgrünen Hügel, die blühenden Blumen und Laubwälder. Der Wind trug den Geruch von warmer Erde in den Tunnel, Vögel sangen ihr Frühlingslied.
»Hörst du das, Tungdil? Das Geborgene Land meint es gut mit dir«, sagte Frala und atmete die Luft tief ein. »Herrliches Wetter! Du wirst eine schöne Reise haben.«
Der Zwerg stand im schützenden Schatten des Ganges und zögerte. Er war es gewohnt, eine schützende Decke über dem Kopf und Wände um sich zu haben, die ihm Sicherheit gaben. Da draußen wartete ein wenig zu viel Freiheit auf ihn, an die er sich bei jedem seiner Botengänge für den Magus von neuem gewöhnen musste.
Doch er wollte vor Frala nicht wie ein feiger Gnom dastehen, also holte er tief Luft, trat an die sonnenbeschienene Oberfläche von Ionandar und marschierte los.
»Bis bald, Tungdil!«, rief die Magd ihm hinterher. Er drehte sich um und winkte ihr, bis sich der Zugang zu Lot-Ionans unterirdischer Behausung schloss; dann setzte er seinen Marsch fort. Allerdings kam er nicht sonderlich weit. Völlig geblendet kniff er schon nach wenigen Schritten die Lider zusammen. Die Zeit unter der Erde, abseits von den Strahlen des mächtigen Gestirnes, hatte ihn derart empfindlich werden lassen, dass er im Schatten einer mächtigen Eiche Schutz vor der Helligkeit suchte. Die Säcke mit dem Proviant und den Artefakten landeten neben ihm im Gras.
Das kann eine nette Reise werden, dachte er. Er hockte sich auf den Boden und blinzelte, um einen ungefähren Eindruck von der Umgebung zu bekommen. Das Blätterdach schützte ihn kaum vor dem unbarmherzigen Licht.
Tungdil erinnerte sich, dass es ihm jedes Mal so erging, wenn er einen Fuß nach draußen setzte. Aber wenigstens eigneten sich die liebliche Landschaft und der grob angelegte Weg gut zum zügigen Laufen.
Er nahm die Karte zur Hand, um sie genauer zu studieren, und hielt sie so über sich, dass sie ihm Schatten spendete. Wenn der Kartenzeichner sich nicht irrte, würde sich die Landschaft in der Nähe des Schwarzjochs verändern. Die Erhebung war von einem dichten Tannenwald umgeben, durch den offenbar kein Pfad führte.