Auch nicht schlimm. Tungdils Daumen fuhr prüfend über die Schneide der Axt. Die Bäume werden zu spüren bekommen, was es heißt, sich mir in den Weg zu stellen.
Die Sonne wanderte weiter.
Der Zwerg gewöhnte sich allmählich an das Licht, das bereits schwächer wurde und sich in zartes Orange wandelte. Die Dämmerung, die seinen Augen schmeichelte, würde bald hereinbrechen, und bis dahin wollte er noch einige Meilen gelaufen sein. Vielleicht würde er an einem Gehöft vorbeikommen, wo man ihm über Nacht Unterschlupf gewährte.
Entschlossen stemmte er sich in die Höhe, hing sich den Rucksack und den Lederbeutel des Magiers über den Rücken, klemmte die Axt in den Gürtel und stapfte los. Eine Weile schimpfte er noch über die Sonne, was ihn zwar nicht schneller machte, aber ungemein erleichterte.
Als Tungdil am fünften Tag seiner bislang ereignislosen Wanderung aus dem Wald trat und die Palisaden eines umzäunten Großdorfes betrachtete, verschwand die Sonne soeben hinter einem Hügel.
Über dem Tor erhob sich ein hölzerner Wachturm, auf dem zwei Männer auf und ab gingen. Zuerst entdeckten sie seine gedrungene Gestalt nicht, dann aber wurde einer der Wächter auf ihn aufmerksam. Ihrem Verhalten nach stuften sie den Zwerg jedoch nicht als Bedrohung für den Ort ein.
Tungdil freute sich. Nach vier kühlen Nächten zwischen Eichhörnchen, Füchsen und zu viel Grün warteten auf der anderen Seite der Befestigung bestimmt eine Schenke, gutes Bier, ein warmes Essen und ein weiches Bett auf ihn. Sein Magen grummelte.
Als er vor dem Tor ankam, blieb der Durchgang verschlossen. Die Wachen lehnten sich über die Brüstung und beobachteten, was der Zwerg tat.
»Meinen Gruß! Lasst mich ein, ich möchte die Nacht nicht unter freiem Himmel verbringen«, rief er laut und musterte die beiden Männer. Ihre Plattenrüstungen sahen gepflegt und gut gearbeitet aus; der Schmied, der sie anfertigte, wusste, auf was es ankam, soweit Tungdil das auf die Entfernung beurteilen konnte. Es bedeutete auch, dass die Männer auf den Schutz angewiesen waren und ihn nicht nur wegen der äußeren Wirkung trugen. Dörfler waren das nicht.
Dann machte er eine weitere Entdeckung. Was er im Schein der Fackeln auf den Palisaden für Zierköpfe gehalten hatte, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als echte Schädel. Die Dorfbewohner spickten ihre Palisaden mit den abgetrennten Häuptern von drei Dutzend Orks!
Tungdil hatte seine Zweifel daran, dass es ein guter Gedanke war, die Scheusale auf diese Weise zu verhöhnen. Orks ließen sich durch die aufgespießten Köpfe ihrer getöteten Artgenossen ebenso wenig von Überfällen abhalten wie Krähen vom Plündern eines Feldes. Sie verstanden diese Art von Ausstellung eher als Anreiz, die Menschen für ihre Taten zu vernichten.
Daraus erfuhr der Zwerg zwei Dinge. Erstens befand er sich in Idoslân, zweitens waren die Männer, die sich die Dorfbevölkerung zur Bekämpfung der Orks anheuerte, ausgezeichnet, doch leider ohne Verstand. Er konnte sich das herausfordernde Verhalten nur so erklären, dass die Söldner Prämien für die Zahl der abgeschlagenen Schädel erhielten. Die Soldaten legten ihre grausigen Köder aus, um das nächste Rudel Orks anzulocken.
»Was ist nun?«, forderte er ungehalten. »Warum darf ich nicht hinein?«
»Du stehst vor Gutenauen im schönen Idoslân. Hast du unterwegs Orks gesehen, Unterirdischer?«, erhielt er zur Antwort.
»Nein, keine«, entgegnete er und gab sich Mühe, höflich zu bleiben; die Bezeichnung »Unterirdischer« empfand er als abwertend. »Und ich bin ein Zwerg, wenn’s recht ist, so wie ihr Menschen und keine Oberirdischen seid.«
Die Männer lachten. Einer von ihnen gab ein Handzeichen, der rechte Flügel öffnete sich knarrend und gewährte Tungdil Einlass. Zwei weitere schwer bewaffnete Söldner standen zur Begrüßung bereit und musterten ihn argwöhnisch.
»Tatsächlich, ein Zwerg«, raunte der eine gebannt. »Sie sind gar nicht so klein, wie man sich immer erzählt.«
Tungdils Laune sank, denn das Angaffen behagte ihm nicht. Er hatte vergessen, wie selten die Menschen Zwerge sahen. »Habt ihr nun genug geschaut? Könnt ihr mir sagen, wo ich eine Unterkunft für die Nacht bekomme?«
Die Wächter erklärten ihm, wo das nächste Wirtshaus zu finden war. Tungdil schlenderte die staubige Straße entlang und erreichte schon bald das Gasthaus. Ein an den Türbalken genagelter, von der Witterung gezeichneter Holznapf und ein nicht weniger ramponierter Krug versprachen dem Besucher zwar keine Köstlichkeiten, aber immerhin ein solides Mahl und einen Schluck Bier dazu.
Tungdil gab sich Mühe, unauffällig einzutreten. Als er den Holzriegel nach oben schob und gegen das Holz drückte, schrien die verrosteten Türangeln auf. Es war die einfachste und zugleich wirkungsvollste Vorrichtung, sich gegen Schleicher zu schützen; diesen Laut des geschundenen Metalls überhörte gewiss niemand. Der Zwerg zögerte und betrat dann den Schankraum.
Zehn Dorfbewohner saßen bei Met und Bier an den grob gezimmerten Tischen; Tabak, Essensdüfte und Körpergerüche verbanden sich zu einem gewöhnungsbedürftigen Bouquet. Die Kleider der Leute waren einfach: Mit Jutehemden oder ungefärbten Wollstoffen schützten sie sich gegen die Kühle des Frühlingsabends. Ihre Füße steckten in dicken Socken und geschnürten Schuhen.
Zwei Dorfbewohner nickten ihm zögernd zu, die anderen beschränkten sich darauf, ihn anzustarren.
Das dachte ich mir. Der Zwerg erwiderte den Gruß und ging zu einem freien Tisch. Die Möbel waren zwar wie immer zu groß für ihn, aber das störte ihn nicht. Er bestellte sich eine warme Mahlzeit und einen großen Humpen Bier. Kurz darauf standen eine Schüssel mit dampfendem Getreidebrei und zerkleinertem Fleisch sowie ein Krug Gerstensaft vor ihm.
Heißhungrig machte er sich über das Essen her. Es schmeckte bodenständig, leicht angebrannt und etwas fad, aber es war warm. Das wässrige, hellgelbe Bier wurde seinem zwergischen Anspruch nicht gerecht, doch er trank es. Er wollte keinen Streit vom Zaun brechen und zudem noch ein Bett für die Nacht bekommen.
Einer der Männer betrachtete ihn so eindringlich, dass er es förmlich spürte. Tungdil warf ihm einen auffordernden Blick zu.
»Ich frage mich, was ein Unterirdischer ausgerechnet jetzt bei uns will«, sagte der Dörfler so laut, dass selbst der Schwerhörigste es vernahm, und stieß den Rauch seiner Pfeife gegen die rußgeschwärzte Decke.
»Ein Bett.« Der Zwerg kaute langsamer, senkte den Löffel in die klebrige Masse und wischte sich die Reste aus dem kurzen Bart. Ein Mensch, der Ärger suchte – das fehlte ihm noch zu seinem Glück. Der Ton des Mannes war eindeutig. Aber nicht mit mir. »Ich möchte keine Scherereien mit Euch«, stellte er fest. »Ich habe die letzten Nächte in der Wildnis verbracht und bin Vraccas dankbar, dass ich ein Nachlager gefunden habe, das nicht aus Laub und Zweigen besteht«, sagte er trotzig.
Die anderen Gäste feixten und lachten. Manche verbeugten sich übertrieben vor dem Pfeifenraucher und redeten ihn mit »Ihro Gnaden« und »Ihre Erhabenheit« an; jemand setzte dem Mann einen leeren Humpen als Krone auf. Sie fanden es lustig, dass der Zwerg die höflichste aller Anreden für einen einfachen Dörfler gebrauchte.
»Oho, der Zwerg hat studiert. Ist wohl ein feiner Pinkel?« Wütend schlug der Mann sich den Krug vom Schopf und wandte sich seinen Leuten zu. »Ja, lacht nur, ihr Deppen! Ich weiß, warum ich misstrauisch bin. Wenn ihn die Orks geschickt haben, um uns auszuspionieren, und er denen heute Nacht das Tor öffnet, bleibt euch das Grölen schon noch im Hals stecken!«
Die Heiterkeit verflog.
Tungdil erkannte, dass es für ihn gefährlich werden konnte, wenn er nicht aufpasste. Vor allem musste er aufhören, wie ein Gelehrter zu sprechen. Ein Zwerg an sich war schon ungewöhnlich genug.