Silbriges Licht fiel auf den Sack, den er Gorén bringen sollte, und stellte seine Beherrschung auf eine harte Probe.
Lass ihn zu, sagte er zu sich selbst. Der Inhalt muss dich nicht kümmern.
Kurz vor dem Einschlafen dachte er an den Magus und an seine große Schwester Frala, deren Talisman er am Gürtel trug. Er vermisste ihr Lachen. Morgen früh wollte er den Krüger nach dem Weg zum Schwarzjoch fragen, und er würde sich durch nichts aufhalten lassen.
Gedämpfte Geräusche weckten ihn aus seinem Schlummer.
Zwei Männer gaben sich große Mühe, so leise wie möglich im Schlafsaal Quartier zu beziehen. Von draußen gesellte sich das Heulen und Toben eines Sturmes hinzu, der um Gutenauen fegte.
Deutlich meinte der Zwerg, den Namen seines Ziehvaters gehört zu haben. Vorsichtig schaute er nach den Neuankömmlingen. Es handelte sich um einen schmächtigen, gut gekleideten Herrn und einen größeren, breit gebauten Mann, der eine mit Eisenplättchen verstärkte dunkelbraune Lederrüstung trug.
Ein Kaufmann und sein Leibwächter?, überlebte Tungdil. Ihre Sachen waren sicherlich viele Münzen wert. Da erspähte er ein schlichtes und dennoch besonderes Schmuckstück, das am ledernen Aufschlag des Größeren der beiden befestigt war und das Siegel des Rates der Magi trug.
Gesandte! »Ihr wollt zu Lot-Ionan?«, fragte Tungdil laut und gab es auf, den Schläfer zu mimen. Die Neugier hatte über die Vorsicht gesiegt.
Der Größere runzelte die Stirn. »Wie kommst du darauf?«
»Die Spange an Eurem Gewand«, erklärte er den erstaunten Männern. »Ihr seid Boten des Rates der Magi.«
Die beiden wechselten einen raschen Blick. »Wer bist du?«, wollte der Besitzer der Spange wissen. Der Zwerg stellte sich vor. »Nun, dann kannst du uns gewiss sagen, wie es um die Gesundheit deines Herrn bestellt ist. Ist er wohlauf?«
»Sicher. Wenn Ihr Euch vorstellen würdet …«, erwiderte Tungdil höflich. Sie nannten ihre Namen: Friedegard, Magusschüler des ersten Grades von der Schule Turgurs des Schönen, und Vrabor, ein Söldner in den Diensten des Rates. »Lot-Ionan geht es gut«, beantwortete er ihre Frage. »Ihr werdet es selbst sehen.« Doch seine Neugier ließ sich nicht zügeln. »Welchen Grund hat es …« Er stockte und verfiel in eine einfachere Sprache. »Was wollt Ihr von ihm?«
»Ich denke nicht, dass ich dergleichen mit dem Handlanger des Magus bereden sollte«, sagte Vrabor abweisend und griff nach den Schnallen seiner Rüstung, um sie zu öffnen. »Ansonsten trüge ich wohl den Titel Ausrufer.«
Das Wüten des Sturmes klang plötzlich doppelt bedrohlich; eine Böe pfiff durch die Ritzen, ein merkwürdiger Laut entstand. Es war ein grelles, unmenschliches Stöhnen, gefolgt von einem schrillen, mehrstimmigen Pfeifen.
Die Boten zuckten zusammen, und ihre Hände fuhren an die Griffe der Schwerter.
Keine gute Nacht, dachte Tungdil und blickte nach draußen, wo mondbeschienene Wolkenfetzen über den nächtlichen Himmel jagten.
Unvermittelt tauchte ein schmales, anmutiges Gesicht vor dem Fenster auf; graugrüne Augen blickten Tungdil an und fesselten seinen Verstand. Die Faszination war größer als der Schrecken, den das unverhoffte Bild mit sich brachte. Lange schwarze Haare peitschten über das Antlitz; einige Strähnen klebten auf der nassen, fast weißen Haut fest und wirkten wie Risse auf den Zügen eines kunstvoll gearbeiteten Elbenabbildes aus edelstem Marmor.
Der Zwerg konnte sich nicht abwenden, die Augen bannten ihn; doch so hübsch das Gesicht auch anzuschauen war, erwuchs eine immense körperliche Abneigung in ihm. Es war zu hübsch, und eine unbestimmbare Grausamkeit ging von ihm aus.
»Da …«, drang es aus seiner Kehle. Es reichte aus, um die Männer aufmerksam werden zu lassen. Sie blickten auf und gingen auf der Stelle in Deckung.
Das dicke Glas barst. Ein langer, schwarz gefiederter Pfeil schwirrte hindurch und bohrte sich in die Wand.
»Verjage sie!«, rief Vrabor seinem Begleiter zu, griff sich den massiven Tisch, hob ihn hoch und verkeilte ihn vor der Fensteröffnung. Schnell befestigte er die behelfsmäßige Abdeckung und arretierte sie mit einem Balken. Für einen Pfeil gab es nun kein Durchkommen mehr.
Friedegard hatte die Augen geschlossen und den Kopf leicht gesenkt; seine Lippen bewegten sich lautlos, während seine Finger einen münzgroßen, mit Gold eingefassten Kristall in seltsamen Bahnen durch die Luft führten.
»Was ist los?« Tungdil sprang aus dem Bett und packte seine Axt; sie gab ihm ein gewisses Gefühl der Sicherheit.
Die Männer antworteten nicht, sondern lauschten. Die Böen flauten ab, das Rauschen des Regens verstärkte sich. Vom Angreifer hörten sie nichts mehr, auch wenn sie ihre Ohren noch so sehr anstrengten; er schien mit dem Sturm gegangen zu sein.
»Ist der Elb weg?«, fragte der Zwerg.
»Ich weiß es nicht«, gestand der Söldner. »Vielleicht.« Er verstaute sein Schwert und setzte sich auf sein Bett; die Hände stützte er auf die Parierstange. »Oder sie warten auf eine bessere Gelegenheit.«
»Sie?«
»Die Albae, keine Elben. Es sind zwei, sie folgen uns seit unserer Abreise aus Porista.«
»Albae!« Sie waren die Todfeinde der Elben, grausamer als jedes Scheusal des Geborgenen Landes, und sie hassten ihre Verwandten wegen deren Reinheit, die ihnen verwehrt blieb. Nur aus diesem Grund, so stand es geschrieben, kamen sie über den Steinernen Torweg. »Ist Lot-Ionan in Gefahr?«
»Ihm kann nichts geschehen«, beruhigte ihn Vrabor müde. »Die Albae wissen, dass sie gegen einen Magus nicht bestehen können. Sie wollen nur Friedegard und mich, um herauszufinden, was wir mit uns tragen. Seit wir aus der Hauptstadt Lios Nudins aufgebrochen sind, belauern sie uns, aber erst jetzt, nachdem ihnen das Ziel unserer Reise deutlich wurde, greifen sie an.« Er sah die unausgesprochene Frage in Tungdils Augen. »Nein, Unterirdischer, du magst sein Handlanger sein und hast uns mit deiner Achtsamkeit bewahrt, aber dennoch kann ich dir nicht sagen, was der Rat der Magi von deinem Meister möchte. Frage ihn selbst, wenn du zu ihm zurückkehrst.«
»Ich bin ein Zwerg, kein Unterirdischer.« Er spielte mit dem Gedanken, zusammen mit den beiden Boten am folgenden Morgen zu Lot-Ionan zu gehen, um ihm von den Erlebnissen zu berichten, kam aber zu dem Entschluss, dass dies unsinnig sei. Zuerst musste er seinen Auftrag erfüllen. So setzte er sich nieder und legte die Axt quer über die Oberschenkel.
Sie wachten die Nacht über schweigend, ohne dass einer von ihnen eingeschlafen wäre. Die Furcht hielt sie munter, auch wenn die rätselhaften Angreifer nicht mehr auftauchten; Friedegards Schutzzauber hatte sie offenbar vertrieben. Die Anspannung wich mit dem ersten sanften Morgengrauen, danach döste der Zwerg auf seinem Lager ein.
III
Lot-Ionan saß im alten Ohrensessel in der Ecke des Studierzimmers, hatte die Füße hochgelegt und blätterte zufrieden in einer seiner zahlreichen Formelsammlungen. Er trug seine gemütliche beigefarbene Robe und die noch gemütlicheren Pantoffeln; auf dem Beistelltischchen neben ihm lagen eine Pfeife und der Tabak stopfbereit parat. Das Glas mit Kräutertee stand daneben und dampfte. Der Magus genoss die Stille.
»Hörst du das, Nula?!«, fragte er die Schleiereule, die es sich über ihm auf der Kante des Sessels bequem gemacht hatte und scheinbar mitlas. Er senkte das Buch und seufzte wohlig. »Ruhe. Kein Lärm, keine Explosionen. Auch wenn es mir Leid tat, Tungdil auf die Reise zu schicken, war es eine gute Entscheidung.«
Die Eule klapperte zur Bestätigung mit den Augendeckeln und gab ein sanftes »Schuhu« von sich. Nicht, dass Nula ihn verstand, aber er redete trotzdem gern zu ihr. Das half ihm, seine Gedanken zu ordnen.
»Zugegeben, es war ein wenig gemein von mir. Gorén wohnt seit vielen Zyklen nicht mehr im Tafelberg«, erklärte er schuldbewusst. »Mein einstiger Famulus verfiel den geistigen und fleischlichen Reizen einer Elbin und ließ das Schwarzjoch hinter sich.« Die Eule blinzelte. »Woher ich das weiß? Gorén hat mir voller Begeisterung über sein neues Zuhause in Grünhain geschrieben und die unendlichen Vorzüge von Elbinnen ausführlich geschildert.«