Lot-Ionan merkte wiederum, wie alt er war. An sinnlich-fleischliche Genüsse dachte er schon lange nicht mehr, es gab für ihn weit Wichtigeres.
»Ich schätze, dass Tungdil herausfinden wird, wo Gorén abgeblieben ist. Und da ich meinen Gehilfen kenne, weiß ich, dass er nicht eher zurückkommt, bevor er den Sack abgeliefert hat.«
Der Zauberer nippte an seinem Tee. Die Kühle im Stollen konnte er auf diese Weise am besten ertragen, aber er wollte es auch gar nicht wärmer haben. Die frische Temperatur hielt den Verstand klar und unterstützte ihn beim Grübeln.
Nula klapperte mit den Augendeckeln, es wirkte vorwurfsvoll.
»Was willst du? Dass ich Tungdil sehr mag, steht wohl außer Frage«, verteidigte er sich. »Aber ein Desaster wie vor wenigen Umläufen, als er und Jolosin mir meine Formel unwiderruflich verdarben, will ich bei einem zweiten Versuch nicht noch einmal erleben. Daher die lange Wanderschaft.«
Der Vogel blieb unzufrieden.
»Es wird ihm gut tun. Auf diese Weise lernt er das Geborgene Land kennen, anstelle nur in Büchern darüber zu lesen. Tungdil wird bald von seinem Abenteuer zurückkehren und glücklich sein, dass er seine Aufgabe gemeistert hat. Jolosin wird sich in der Küche die Finger wund schälen, Kartoffeln bis an sein Lebensende hassen und keine Gemeinheiten mehr gegen ihn aushecken. So gewinnen alle durch diese Lösung.« Sein Blick fiel auf das Sonnenzyklenkalendarium. »Oh, was sehe ich denn da?! Wir bekommen hohen Besuch, Nula.«
Die Rechenscheiben kündigten ihm für den heutigen Tag Nudin den Wissbegierigen an. Natürlich würde sein Magusbruder nicht persönlich erscheinen. Sie lebten rund fünfhundert Meilen voneinander entfernt, und über diese Strecke kommunizierten die Zauberer mithilfe von Magie und einem aufwändigen Ritual, das nur zu bestimmten Mondphasen möglich war.
Die Entfernung war ihm nur recht, denn Nudin entwickelte sich langsam zu dem unsympathischsten Menschen, den Lot-Ionan kannte. Gleichzeitig reifte er jedoch zu einem begnadeten Magus heran, und seine Fertigkeiten wuchsen im Einklang mit seiner Unausstehlichkeit.
Jeder fand irgendwann seinen eigenen Pfad, die Geheimnisse der Zauberei, der »ars magica«, zu ergründen. Nudin versuchte es offenbar, indem er mürrischer, unfreundlicher, abweisender und fetter wurde.
»Ich sage dir, Nula, der Mann beherrscht Formeln und Beschwörungen, die andere sich nicht einmal getrauen anzusehen.« Er griff unter das Beistelltischchen und fischte nach einem Glas sowie der Karaffe mit klarem Wasser. Kurz polierte er das Glas am Rockaufschlag und hielt es prüfend gegen das Kerzenlicht.
Dabei dachte er über die Behauptung nach, Nudin habe seine wachsende Macht nicht durch Lernen und Forschen erhalten. Geschwätzigen Zungen zufolge hatte er einen Zauber auf seinen eigenen Körper gesprochen, damit Magie auf Dauer in ihm wohnte. Lot-Ionan hielt das für absurd, dennoch bestritt er nicht, dass sich Nudin verändert hatte. Auch äußerlich.
Urplötzlich wurde es kühl im Zimmer, ein heftiger Windstoß fegte durch den Raum und brachte die Kerzen zum Flackern. In der Mitte des Raumes entstand ein leichtes, bläuliches Flimmern, aus dem sich allmählich die Konturen eines Mannes formten. Nach wenigen Lidschlägen stand die beeindruckende Gestalt Nudins vor Lot-Ionan.
Dieser musterte den dunkel gekleideten Gast. Er musste ein wenig gewachsen sein, sowohl vom Umfang her als auch von der Länge. Sein Leib wirkte massiger als früher, und vielleicht trug er deshalb das weite malachitfarbene Gewand, um seine Fülligkeit zu verbergen.
Die halblangen dunkelblonden Haare hingen kraftlos bis zu den Ohrläppchen herab, und über dem Grün seiner sonst munter blitzenden Augen lag ein Schatten. Es war das lebensechte Abbild des tatsächlichen Magus, der sich in Wirklichkeit in seiner Residenz in einem Ritualkreis befand und den Zauber wirkte.
Die Illusion war vollkommen. So vollkommen, wie Lot-Ionan sie in seinen zweihundertsiebenundachtzig Jahren noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Üblicherweise schimmerten die magisch erzeugten Nachbildungen durchsichtig oder wiesen andere kleinere Fehler auf. Diese nicht.
Nudin hielt mit der Linken seinen kunstvoll geschnitzten Gehstab aus Ahorn, auf dessen Spitze ein großer Onyx eingefasst war, und wischte sich mit einer lässig anmutenden Handbewegung die letzten blauen Fünkchen ab, die auf seiner stilvollen Robe tanzten. Lot-Ionan kam sich in seiner abgewetzten Robe lächerlich vor.
»Wie schön, dich wiederzusehen, Lot-Ionan. Es ist bestimmt schon eine kleine Ewigkeit her, seit wir uns das letzte Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden«, lächelte er. Seine Stimme klang kratzig, heiser.
»Nimm doch Platz.« Lot-Ionan deutete auf einen Sessel, in dem sich sein Gast anmutig niederließ. Es war eine Abmachung, dass die Illusionen so behandelt wurden, als handelte es sich um die echten Menschen – eine Geste der Höflichkeit und Wertschätzung. »Darf es ein Schlückchen Tee sein, Nudin? Oder lieber etwas anderes?«
Das war kein Gehabe. Ein Magus konnte den Geschmack eines Getränkes, das sein Trugbild kostete, selbst über fünfhundert Meilen Entfernung nachempfinden.
Nudin winkte ab. »Nein, vielen Dank, mein Freund. Die Angelegenheiten sind wichtig und dulden keine weiteren Verzögerungen. Du musst sofort nach Lios Nudin kommen. Das Tote Land regt sich.«
Lot-Ionans Lippen wurden zu dünnen Strichen; die Eröffnung erfolgte für ihn überraschend. »Wann hat es angefangen?«
»Vor ungefähr sechzig Umläufen. Ich entdeckte es bei einem Besuch an der Grenze«, berichtete der Magus besorgt. »Unsere Bannschranken sind aufgeweicht und durchlässig geworden. Ich kann den Schaden daran allein nicht mehr ausgleichen, ich brauche die Macht der Sechs. Die anderen vier sind schon da. Wir warten auf dich.« Er hielt inne.
»Was noch?«, forderte ihn Lot-Ionan freundlich auf, auch auf die Gefahr hin, noch mehr schlechte Nachrichten zu hören.
»Die Albae …«, begann Nudin. »Sie sind weitab von Dsôn Balsur im südlichen Gauragar gesehen worden. Und König Tilogorn ist auf der Suche nach einer großen Rotte Orks, die plündernd und vernichtend durch Idoslân zieht.« Er warf seinem Gastgeber einen besorgten Blick zu. »Das bedeutet nichts Gutes, Lot-Ionan.«
»Denkst du, dass es etwas mit dem Erstarken des Toten Landes zu tun hat?«
»Ich kann nicht leugnen, dass ich es für möglich halte«, antwortete Nudin ausweichend. »Warum hast du dich nicht gemeldet, als der Rat der Magi um eine Besprechung bat?«
»Wie bitte?«, staunte Lot-Ionan. »Ich habe keine Botschaft erhalten.«
»Man sagte mir, die besten Boten seien aus diesem Grund zu dir gesandt worden. Friedegard und Vrabor, du kennst sie.«
»Ja, natürlich kenne ich sie. Aber sie kamen nicht an«, wunderte sich der Magus und machte sich ernsthaft Sorgen um die beiden. Unwillkürlich dachte er an die Albae. »Gut, dass du sicherheitshalber vorbeigeschaut hast«, befand er. »Ich werde mich umgehend auf die Reise machen. In wenigen Sonnenumläufen bin ich in Lios Nudin.« Lot-Ionan rechnete damit, dass sich das magische Abbild des Wissbegierigen auflöste, doch es blieb.
»Ich muss dich um noch eine Sache bitten«, eröffnete ihm der Magus. »Im Vergleich zu dem Voranrücken des Toten Landes ist es eine Lappalie. Meine Utensilien … benötigst du sie noch? Ich hätte sie gern von dir zurück, und du könntest sie mir bei der Gelegenheit mitbringen.«
»Ach, ja. Ich erinnere mich.« Lot-Ionan hatte sich vor ewigen Zeiten mehrere Gegenstände von Nudin für Gorén ausgeliehen: einen kleinen Handspiegel, zwei armlange Stücke Sigurdazienholz und zwei versilberte Glaskaraffen mit seltsamen Gravuren. Gorén hatte in einem Kompendium etwas über die Gegenstände gelesen und sie untersuchen wollen. Der Magus entsann sich nicht mehr, zu welchem Ergebnis sein Famulus gekommen war, vermutlich war es ihm nicht wichtig erschienen. Auf Anhieb wusste er auch nicht, wo er die Sachen aufbewahrte. Er hoffte, dass sie nicht im Laboratorium gestanden hatten, als Tungdil dort gewütet hatte.